Lesen und sehen und spüren lernenArtistin

Wolfgang Bleier über die Dekadenz der Badewanne und seinen neuen Roman

Warum Schreiben eine Arbeit ist, selbst wenn sie sich nicht rentiert, und warum nicht der Weiß-der-Teufel Rom erbaute, sondern die Arbeiter_innen, hörten Carolina Frank (Foto) und Nadine Kegele (Interview) von Wolfgang Bleier, Schriftsteller im Hauptberuf, Buchhändler im Brotberuf.Nach «Die Arbeitskräfte» (2011) hat Wolfgang Bleier, 1965 in Dornbirn geboren, mit «Fischfang bei aufgehender Sonne» (2015) sein fünftes Buch vorgelegt. Aus dem Herzen des un-/glücklich verliebten Protagonisten torkelt ein Sperling, mit Alkohol löscht man den Personenbrand, die Seele hat im Schlaf ein bisschen Platzprobleme und zu einem großen Unglück braucht es mitunter sehr wenig. Aber obwohl der Kopf der einen Bürgerin oder des anderen Bürgers eine Polizeidirektion ist, beschützt der Held seinen Blick für die hungrige Alte und den Obdachlosen, für den jede Türklinke zu einem Krokodil wird, vor den groben Klötzen, die die Welt bewohnen.

Wir haben uns vor kurzem bei einer Hotel-Lesung kennengelernt – wie empfindest du Hotels?

Für Hotels hatten meine Eltern kein Geld, wir waren auch nie in einem Gasthaus, das war finanziell nicht drin. Ich tu mir schwer mit Hotel-Begebenheiten, aber ich liebe es, aus einem Fenster zu schauen, aus dem ich sonst nie schauen würde, eine andere Perspektive zu haben. Die Opulenz war etwas befremdlich für mich. Ich hab zum ersten Mal ein Fünf-Gänge-Menü gegessen. Aber mittlerweile kann ich es schon genießen, dass sich jemand um mich kümmert. Ich wittere auch nicht mehr in jedem Restaurant die schlecht bezahlten Arbeitsplätze. Ich hoffe, die sind normal bezahlt, gut bezahlt.

Jedes Budget hat seine Menüs. Zu welchen Lebensmitteln hattest du keinen Zugang?

Diese italienischen Rosmarindinger hab ich nicht gekannt, das hat meine Schwester mal kredenzt, seitdem kaufe ich die öfter, dann fühle ich mich wie in Italien. In Italien war ich erst zwei Mal, musst du dir vorstellen, erst zwei Mal. Und Prosciutto kannte ich nicht.

Höchstens Lyoner.

Ja, Lyoner! Ich hab das Glück gehabt, dass mein Papa aus dem Burgenland war – der ist als Wirtschaftsflüchtling nach Vorarlberg gekommen –, deshalb kannte ich Pfirsiche. Fisch bestelle ich nur, wenn ich jemandem zuschauen kann, wie man tut. Oder dass man sich eine Flasche Wein bestellen könnte, fällt mir erst seit drei, vier Jahren ein. Ich hab außerdem selten ein Vollbad genommen. Dass man sich genießerisch in die Wanne hockt, ist mir dekadent vorgekommen.

Apropos wenig Geld: Die Regierung debattiert Mindestsicherungskürzung für Flüchtlinge. Als könnte ein Mensch von noch weniger leben. Dabei würde ohnehin bloß das Bedingungslose Grundeinkommen emanzipieren.

Aber das ist nicht erwünscht. Die sollen nicht emanzipiert sein, allgemein soll man sich nicht emanzipieren, sondern abhängig bleiben. Auch dieser ganze Lohnzwang, arbeiten gehen zu müssen: Du bist dem Arbeitgeber total ausgeliefert. Da müsstest du schon Geld haben, um dich von dem zu befreien.

Bei Bedingungslosem Grundeinkommen schießt die Scheidungsrate hoch.

Das glaube ich. Meine Eltern haben ein Leben lang gestritten. Aber auch deswegen, weil die Existenzgrundlage so minimal war. Die finanziellen Unsicherheiten haben meine Familie teilweise fertig gemacht.

War deine Mutter pensionsversichert?

Sie war Hausfrau, da hat sie nichts gekriegt, und sie hat zu Hause genäht. Meine Mama kommt von einer Bauernschaft, aber ihr Papa hat sie eine Schneiderlehre machen lassen. Unglaubliche Löhne, und oft hat sie lange herum gemurkst an so Flickarbeiten. Da denkt man, das hat man gleich, aber das ist mühsam. Was ich nicht ungut fand war, dass sie in der Küche gearbeitet hat. Ich mache heute noch alles am Esstisch. Den hab ich mir extra bauen lassen. Ich hab zu dem Tischler gesagt, ich will ihn ein Leben lang haben. Das Leben und das Arbeiten gehören für mich zusammen. Als Kinder sind wir viel barfuß gegangen. Mehrmals hab ich mich in eine Nadel gestellt oder gesetzt, oder eine Nadel ist in der Stuhllehne gesteckt, dann ist sie mir in den Rücken gefahren.

Barbi Marković schreibt, Kunst kann nur machen, wer Rückendeckung durch Geld hat.

Ich schreibe nebenbei, obwohl das mein Hauptberuf ist, ich arbeite in die Nacht hinein, weil ich noch meinem Brotberuf nachgehe. Natürlich ist das immer ein Kampf gegen die Zeit, gegen die Zwänge, denen man ausgesetzt ist, aber das mache ich schon mein ganzes Leben so, damit habe ich mich abgefunden. Vielleicht kümmere ich mich deshalb kaum um Stipendien.

Zum Glück hast du schon welche bekommen. Sogar mit offizieller Übergabe, wo du dich feiern lassen musstest.

Ich denke mir immer: Verdiene ich das? Das ist sicher etwas, das aus der Biografie kommt – dass man dir nicht beibringt, dass du Würde hast. Und ich habʼs komisch gefunden, dass die Politik anwesend war, wohlgefühlt hab ich mich nicht. Ich kann mich erinnern, ich fange an zu lesen und der Landeshauptmann schläft ein. Da hab ich mir gedacht: Au weia!

Die Pappen aufmachen

Welche Hierarchisierungen von Arbeit hast du erlebt?

Wer hat das gesagt, dass man als Schriftsteller aus dem Fenster schauen kann und trotzdem arbeitet, Hauptmann?

Doderer?

In Robert Walsers «Der Spaziergang» erklärt eine Schriftstellerfigur dem Amt, dass sie deshalb ständig spazieren muss, um die Welt einzusaugen, erst dann kann sie von etwas schreiben. Das Amt versteht nicht, dass das Spazierengehen vorbereitende Arbeit ist. Wenn ich schreibe, muss ich hart arbeiten. Zu Hause und in der Schule war klar, dass man erst durch Arbeit eine Existenzberechtigung erhält. Man muss etwas leisten, um sein zu dürfen. Auch eine Lesung mache ich nie zwei Mal, ich lese immer anders, suche die Passagen frisch aus, übe das Lesen, bereite alles vor, damit ich mir das Honorar verdiene. Bei «Fischfang bei aufgehender Sonne» hab ich mir die Aufgabe gestellt, ich schaue morgens aus dem Fenster und beschreibe, wie der Tag beginnt. Für eineinhalb Seiten Endprodukt bin ich zweieinhalb Jahre gesessen. Totale Pitzelei.

Das kann jemand kommentieren mit: Der ist verrückt, das bringt doch niemandem was.

Mir schon.

Du schreibst: «Wartet man an der Haltestelle, kann man zum Zeitvertreib an der Welt rütteln mit Worten.» Mit Worten arbeiten ist etwas Greifbares, du kannst richtig was machen damit.

Ja, der Satz stimmt.

Der kommt von dir.

(lacht)

Schreiben wird oft nicht als Arbeit anerkannt, weil es wenig Geld einbringt.

Weil es sich nicht rentiere, ja. Bei der Literatur aufs Einkommen zu spekulieren, geht nicht. Das muss man müssen oder wollen oder können. Auf ein Renommee zu spekulieren, das geht nicht. Bei meiner Arbeit sowieso nicht, weil es nicht massentauglich ist. In Österreich gibt es keine Erziehung dahingehend, dass man Respekt hat vor der Kunst. Das wird nicht wertgeschätzt, das wird eher scheel angeschaut, da hat man erst mal Angst. Dabei könnte die Auseinandersetzung mit Kunst und Literatur unglaublich gewinnbringend sein, nicht nur für mich, aber für mich warʼs so.

Beim Konsumieren oder Produzieren?

Bei beidem. Natürlich kriegst du einen wachen Blick, eine Aufmerksamkeit für die Welt. Bei uns zu Hause gabʼs keine Kunst, null. Als meine Schwester Au Pair in Paris war, hat sie mich in die Museen geschleppt – und ich stand zum ersten Mal vor einem Van Gogh. Der Eindruck war sehr stark. Wenn Kunst gut ist, dann bleibt sie dir.

Es gibt Leute, die es romantisch-verwegen finden, dass Josef Winkler Bücher stehlen musste, aber für ihn war das –

Eine Überlebensnotwendigkeit. Für den Josef Winkler sicher und für mich eigentlich auch. Das hab ich gelernt: Dass es ein Denken gibt, das eine_n befreien kann, weil es eine_n aus diesen Mustern, die man gelernt bekommen hat, rausholt. Ich hab das Glück gehabt, dass für die Schule Bücher genehmigt waren, also hab ich mir Brecht besorgt. Darin hab ich ein Gedicht gefunden, nicht der Dings erbaute die Pyramiden, sondern; also es geht darum –

Dass es Arbeiter_innen gibt?

Ja, dass es gebaut wird von allen. Nicht der Weiß-der-Teufel erbaute Rom, sondern Handwerker_innen. Die Idee ist auch wesentlich, klar, aber es ist nicht die ganze Wahrheit.

Was denkst du dir, wenn jemand von den sogenannten einfachen Leuten spricht? Und hast du eine Ahnung, wie das Gegenteil davon heißen würde?

Was heißt das überhaupt – dass sie nicht gebildet sind? Das ist natürlich schwierig, das ist gar keine Frage, aber ich denke mir schon, für mich ist es wichtig gewesen, dass ich Bildung bekommen habe. Ich würdʼs nicht missen wollen.

Ich auch nicht. Aber ich will auch nicht, dass über mich so gesprochen wird, diffamierend, und es ist diffamierend.

Ja, da schwingt der Standesdünkel schon stark mit. Den spürt man in Vorarlberg eher weniger. In Wien spürt man den stark, da bist du ausgeschlossen, in gewisse Kreise kommst du nicht rein. Nur als Künstler darfst du am Tisch sitzen. Mich macht das grantig. Ich hab schon so viele Bessersituierte erlebt, die nicht gerade vor Intelligenz gestrotzt haben, langweilig waren, total uninteressant. Erzählten von ihren Karrieren, ihren Urlauben, dass sie verkühlt waren, weil die Klimaanlage so scheiße war. Die Welt erfahren kann man auch anders, lernen kann man auch ohne Geld.

Winkler hat sie gestohlen, wie bist du zu Büchern gekommen?

Von meinem ersten Stipendium habe ich mir Bücher gekauft. Das ist ja mein Arbeitsmaterial. In meinem Elternhaus gibt es bis heute kein Buchregal. Lesen ist für meine Eltern nicht selbstverständlich, so wie für mich. Der Papa hätte zwar gern gelesen, er hat unglaublich gern Karl May gelesen, richtige Schmöker, aber meine Mama hat es ihm mehr oder weniger untersagt. Weil er dann ja nichts arbeitet. Lesen ist gleich Müßiggang. Auf dem Bauernhof war Lesen nicht möglich, das war verpönt.

Haben sie deine Bücher gelesen?

Probiert haben sie es schon. Einmal hat ein Bekannter gesagt, er will mein Buch kaufen, mein Papa hat ihm davon abgeraten. Das war eine Watsche, das hat mich total getroffen.

Deine Bildungsbiografie war nicht gerade ein gemachtes Nest.

Die Mama hat genäht, der Papa war Tischler, später Telefonist. Ich habʼs geschafft, das Studium anzufangen, weil mein älterer Bruder bereits das Feld vorgepflügt hat. Der hatte Matura, das hat er durchgefightet. Er hat auch Familienrechte für die Kinder eingeführt, er hat früh die Pappen auf- und Revolution gemacht. Zum Beispiel das Mitspracherecht der Kinder am Tisch oder dass man den Eltern widersprechen darf. Mein älterer Bruder ist ein Kämpfer, gegen Ungerechtigkeiten hat er sich gewehrt. Und so hat er Bahn frei gemacht für die nachfolgenden Kinder. Er war mein Vorbild, ich bin wie er in die HTL, obwohl ich kein technisches Talent hab, gar nicht. Aber ich hab das abgeschlossen und bin sogar auf die Uni – bis ich mein Studium abgebrochen habe nach meiner Indien-Reise, die mir emotional eine Delle geschlagen hat.

Wegen der Armut?

Ja. Was ich dort gesehen habe, hat mich fertiggemacht. Wir haben Sozialarbeiter_innen interviewt und eine Frauenrechtlerin besucht. Ich hatte mir gedacht, die Welt ist schon viel besser.

Und beim Zurückkommen?

Das war auch entsetzlich! Wie wir in München gelandet sind, waren die Straßen mit tausenden Euros bestückt, links und rechts teure Autos. Und diese grauenhafte Sauberkeit! Meinem Reisekompagnon ist Essen auf den Boden gefallen, er hat es aufgenommen und weitergegessen, weil alles so sauber war. Zwei, drei Mal war ich noch auf der Uni, aber ich hab gedacht: Diese Fragestellungen sind nicht relevant. Also hab ich aufgehört – und nicht gewusst, was ich machen soll. Dann hab ich lange in einem Wettbüro gearbeitet, im ältesten Wettbüro Wiens, in der Neubaugasse. Lauter alte Männer sind ein und aus gegangen und haben auf französische Pferderennen gewettet. Fünf Schilling, zehn Schilling, fünfzehn Schilling. Wetteinsätze dieser Größenordnung. Der Parkett war hundsalt, und es gab eine knarrende Holztreppe zu einem Hinterzimmer. Dort ist der Rauch gestanden und es wurde Schnaps getrunken, entsprechend hat es gerochen, hochgradig abgefuckt.

Was war deine Aufgabe?

Ich war Einschreiber, ich hab von Hand die Wetten eingeschrieben, auf das und das Pferd, bis zum Wettschluss, im Schnellgang. Am Schluss haben alle noch protestiert – da hab ich wilde Situationen erlebt. Verdient hab ich am Tag einhundert, zweihundert Schilling, zwei, drei Tage hab ich gearbeitet, von dem hab ich gelebt. Ich bin oft Eis essen gegangen beim Tichy, das hat satt gemacht und nicht viel gekostet.

Hast du Existenzen sich ruinieren gesehen?

Natürlich, obwohl sie sich bedeckt gehalten haben. Der Kleine Hans zum Beispiel: Der hat eine Gaude gehabt, wenn er was gewonnen hat. Er hat immer geglaubt, dass er mehr gewinnt als er verliert, aber er hat alles verloren, und das Leben dann auch – Raucherlunge, zuerst der eine Lungenflügel weg, dann der zweite. Der war ein Lieber. Der war ein netter Mann. Danach hab ich medizinische Zeitschriften lektoriert, was ich nicht konnte, aber ich hab es versucht. Ein Jahr haben sie es mit mir ausprobiert. Mit dem Angebot, dass das Arbeitsamt 50 Prozent der Lohnkosten übernimmt, bin ich dann herum geradelt. Ich hab mir gedacht, ich könnte Buchhändler werden. Zehn Buchhandlungen hab ich abgeradelt, die zehnte hat mich genommen.

Du hast einfach vorgesprochen?

Ich hab einfach vorgesprochen, mit dem Radl und dem Angebot im Sack. Damit hab ich den Gierigsten erwischt – der war froh, eine billige Arbeitskraft zu kriegen.

Nicht für den Markt

Ich hab lange nicht gewusst, dass man Bücher anders lesen kann, ich hab ein zweites Mal lesen gelernt.

Ich hab überhaupt relativ spät lesen gelernt, und ich glaube, dass man ständig lesen lernt. Es ist ein Irrtum, dass man das angeblich kann, wenn man eine Schule besucht hat. Wenn man Literatur verstehen will, muss man lesen lernen, sehen lernen, spüren lernen. Das ist nicht gegeben – das ist ein Prozess. Alle Leute glauben immer, Kunst muss man sofort verstehen, oder muss sofort verstehbar sein. Das ist die falsche Anforderung, meiner Meinung nach. Man muss sich bemühen. Es geht darum, es sich anzueignen. Da kann man unglaublichen Gewinn daraus ziehen, das ist eine ganz konstruktive Kraft, die in der Kunst, und eben auch in der Literatur steckt. Das Lesen lernen ist eine feine Sache, finde ich, das kann wirklich Glück verschaffen.

Wie bist du zu deiner literarischen Sprache gekommen, überhaupt auf die Idee, schreiben zu können, zu dem Wissen, dass es den Beruf Schriftsteller_in irgendwo da draußen gibt?

Mein Reisekompagnon und ich haben zu den Indien-Dias aus unseren Aufzeichnungen vorgelesen, weil wir nicht wollten, dass man die Bilder runterkonsumiert. Eine Professorin von der Afrikanistik hat gesagt, ich muss etwas aus diesen Aufzeichnungen machen. So ist das erste Buch entstanden. Es war seltsam, es ist gleich von einem Verlag genommen worden. Da hab ich gedacht, und das denke ich bis heute, ein Buch geschrieben zu haben, ist viel, mehr habe ich gar nicht erwartet. Dreizehn Jahre später habe ich mein zweites veröffentlicht.

Warum so viel später?

Weil ich schreiben lernen musste. Ich hab immer geschrieben, aber ich hab nie Literatur gemacht, ich hab nicht gewusst, wie das geht. Ein Bleistift hat nichts gekostet, das Papier auch nicht viel, und es war die naheliegendste Form mich auseinanderzusetzen mit dem, was mir begegnet. Ich hab viele Notizen gemacht, Gedichte, essayartige Reflexionen, Zorntexte – es hat mir das Leben erleichtert.

Anstatt real Zorn auszuüben?

Ja, das war ein Ventil für mich. Es gab viele Konflikte mit den Verwandten, mich haben diese Null-Gespräche aufgeregt, das war für mich so Dödeli-Kommunikation. Da bin ich heim und hab einigʼfetzt in mein Notizbuch. Das mache ich bis heute, manchmal.

Kannst du dich eigentlich an Bildungs-Fauxpas erinnern? Zum Beispiel habe ich, weil ich ihn nur vom Schriftbild her kannte, den deutschen Namen Theodor Fontane englisch ausgesprochen, alle im Raum haben gelacht.

Da ist mir bestimmt einiges passiert. Das Beispiel fällt mir jetzt nicht ein, ich habe ähnlich wie du einmal bei einer Lesung ein Wort komplett falsch ausgesprochen. Aber ich hab das immer so verwendet für mich. Danach hat mir jemand gesagt, dass es anders heißt. Jetzt kläre ich im Vorhinein französische Aussprache ab, manchmal sogar englische.

Oft frage ich mich, ob mein Schreiben demokratisch genug ist.

Ich weiß, was du meinst.

Machst du dir Gedanken darüber, dass du in deiner literarischen Sprache etwas beinahe Ausschließendes machst?

Im Nachhinein hab ich schon die Bedenken, dass ich zu abgehoben bin, aber während ich arbeite, kann ich nicht anders, es zieht mich einfach in diese Richtung. Ich denke während dem Schreiben überhaupt nicht daran, wer das irgendwann liest. Außerdem gibt es so eine Forderung, dass man Relevanz produzieren soll, Nutzbarkeit. Aber ich arbeite ja nicht für den Markt. Der Markt scheißt sowieso auf mich. Und ich bin dagegen, dass man einen Text komplett versteht. Das ist ein falscher Anspruch, den man meiner Meinung nach an Literatur hat. Niemand verlangt, dass man einen anderen Menschen komplett versteht, das wäre eine fade Socke. Bei Literatur und Kunst ist es ähnlich. Wenn etwas komplett verstehbar ist, dann gibt es keine Denkaufgabe, das ist nicht anhaltend.

Mich hat mal eine Journalistin gefragt, wie mein Buch sei, sie lese nur Bücher, die sie fröhlich machen. Bei so etwas frage ich mich, ob alle denken, ich wäre ihre Animateurin.

Als Schriftsteller bin ich nicht dafür verantwortlich, dass es anderen gut geht. Da müssen sie einen Ratgeber in die Hand nehmen. Als Künstler_in macht man die Welt offen, man zeigt auf, was sichtbar ist.

«Auf allen Vieren kriechend nach den Sternen greifen, ist schwierig», schreibst du. Das erinnert mich an eine Frauenrechtlerin, Luise Otto-Peters: «Wir wollen lieber fliegen als kriechen.»

Fliegen ist die Freiheit schlechthin. Für einen Zweibeiner ist es schwierig, dass man so erdgebunden ist. Und manchmal muss man sogar kriechen.

Du lässt den Protagonisten einen Blick haben, der die Randfiguren sieht: die Bettlerin, den Kaufhausdieb, die hungrige Alte, die keine Sonntagsschuhe trägt, den Obdachlosen.

Im Grunde sind wir alle obdachlos, aber es gibt natürlich die ganz konkrete Obdachlosigkeit auch. Der Obdachlose, den ich beschreibe, ist immer zu mir ins Geschäft gekommen, das war ein Charakterkopf. Er hat wirklich einen Vogelschädel gehabt, weil er wenig und schlecht gegessen hat, sodass sich der Schädel herausgeformt hat aus seinem Gesicht.

Du könntest auch sagen, das ist zu schrecklich, da schau ich gar nicht erst hin.

Man muss den Schrecklichkeiten ins Auge schauen, das muss man meinem Berufsverständnis nach. Nur schöne Bildchen schreiben wäre langweilig und nicht richtig. Mir würde vorkommen, ich beschönige die Wirklichkeit, verzerre, was ich sehe.

Auch die Straßentaube erhält Solidarität.

Das Leben in der Stadt ist hart, auch für Tauben ist es hart. Das ist außerdem ein Vogel, der sehr schön ist, sehr weiblich, finde ich.

Wieso weiblich?

Weil er so rund ist. Ich glaube, die Taube ist eine Metapher, die ich für Weiblichkeit verwende, oder täuscht mich das?

Ach so! Das Täubchen, wie es so oft in älterer Literatur heißt?

Vielleicht hab ich das unbewusst gemacht. Es geht schon um Solidarität mit den Schwachen, aber eben auch um Fruchtbarkeit, Weiblichkeit, das Meer, das Wasser, diese Motivik. Natürlich auch die Taube, die für den Frieden steht. Ich finde, da muss man solidarisch sein. Als Tier bist du extrem eingeschränkt, oder als Pflanze, weil Menschen so aggressiv sind.

Wobei selbst die rassistischsten Leute ihren geliebten Hund haben.

Stimmt, Tiere als die besseren Menschen. Aber das ist Quatsch.

Verstehst du, wenn ich sage, dein Schreiben erinnert mich an Friederike Mayröcker?

Schon, ja, wir haben eine verwandte Schreibtechnik, vermute ich. Ich arbeite mit hunderten Zetteln. Das hat sich aus meiner Berufssituation ergeben. Friederike Mayröcker schätze ich, weil ich das Magische ihrer Texte mag. Ich bin schon auch gern ein Zauberer, oder ich würde gern ein Zauberer sein.

Eine gekürzte Fassung des Interviews erschien im Augustin Nr. 414.