Augustin 323 - 06/2012

Die Frechheit der Unterwürfigen

1774 ist der deutsche Aufklärer Georg Christoph Lichtenberg zum zweiten Mal in London. Unermesslich ist die Stadt, im Vergleich zu den deutschen Städten, die noch Provinznester sind. Ähnlich für Goethe die Neapel- und Rom-Erfahrungen. Das so genannte Corso-Erlebnis ist für die staunenden Germanen die Begegnung mit einer unbekannten Synthese von Kubikmeter, Dezibel und Körpertemperatur. Eine neue Raumerfahrung, für die man den Begriff EGALITÄR parat halten kann.Dieser Corso der ungeselligen Geselligkeit (paradoxerweise ist dieser dialektische Begriff in Deutschland erfunden worden, wo es keine Corsi gab, sondern ungemütliche Gemütlichkeit) besteht aus allen sozialen Schichten, und trotzdem können alle miteinander auf gleicher Augenhöhe kommunizieren, vor allem dann, wenn sie einander nicht in die Augen schauen können, weil diese sich sicher hinter den Karnevalsmasken verstecken. Die Italienreisenden, die aus Stuttgart oder Weimar kommen, haben ihren Spaß, wenn sie nach schönsten Metaphern Ausschau halten, um ihrem Publikum zuhause im Deutschland des 18. Jahrhunderts zu erklären, dass Straßen auch spannend sind, wenn Herren sich an Knechten reiben und umgekehrt, ganz ohne «Kööch». «Ihn (also Lichtenberg) schreckt es nicht», schreibt der Lichtenbergbiograf Carl Brinitzer, «dass er im Gedränge hier ein Schnupftuch, dort sein silbernes Petschaft einbüßt.» Die andere Erfahrung der damals Reisenden aus den 50.000 Einwohner-Städten in die 500.000 Einwohner-Städte: der Preis der Freiheit des Großstadtlebens ist das Erlebnis, zu jeder im öffentlichen Raum durchquerten Minute in die Mitte einer heterogenen Gruppe der reinsten Aufdringlichkeit zu geraten. Die Bettler_innen hängen sich daran, die Gschrappen, die dem Herren schon die Schuhe zu putzen beginnen, wenn dieser noch mächtig ausschreitet, die Huren, die in einen Konkurrenzkampf um den Professor aus der Kälte verfallen sind. Da alle Weltstädte, damals wie heute, in Reich und Arm geteilt sind, kann niemand, der/die potentiell dicke Brieftaschen hat, erwarten, unbelästigt durch die Straßen schlendern können. Dennoch ist die Großstadt für sie begehrenswert. Was ist passiert, dass ihre Nachkommen der x-ten Generation nicht einmal einen Bruchteil dieser «Belästigung» aushalten? Was, sogar die «Unterwürfigkeit» im Blick des verstümmelten Bettlers ist ekelerregend? Ja, weil er frecherweise die Straßenzeitung zum Betteln «missbraucht». Aus der Perspektive der grassierenden Alltagspsychologie ist der Unterwürfige viel zu frech und der Freche viel zu unterwürfig. Einem Georg Christoph Lichtenberg, lebte er heute, würde dazu einiges einfallen. Aber er würde auch manchmal schmähstad sein. Zum Beispiel würde er sich sehr wundern, wie sehr heute, selbst unter links fühlenden Menschen, öffentliche Räume erst für wohltuend empfunden werden, wenn deren egalitären Momente hinwegmodernisiert werden, indem den Erniedrigten e i n öffentlich sichtbarer Aufenthaltsraum nach dem anderen entzogen wird. Aber: Es wär doch gelacht, wenn der Augustin, frisch motiviert durch seine 333 Liebhaber_innen, nicht in der Lage wäre, gerade das Egalitäre als wohltuend schmackhaft zu machen.

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