Augustin 359 - 01/2014

Von allen Seiten betrachtet

Charly K., neun Jahre Schmalz, wird entlassen. Das Erste, was er sich draußen leistet, ist ein 16er-Blech am Würstelstand. Weniger, weil er Durst hat, vielmehr, weil er sich an die 16er-Blech-These erinnert, die ihm sein hobbyphilosophischer Zellengenosse eingeprägt hatte. Phantasier dir ein 16er-Blech auf diesen Tisch, sagte der Häfenphilosoph. Betrachte es von oben. Was siehst du? Einen Kreis. Und nun betrachte es von der Seite. Jetzt siehst du ein Viereck. Nimm die Bierdose und bewege sie in deiner Hand. Betrachte sie von allen Perspektiven. Erst jetzt nimmst du die Zylinder-Form wahr. Der Kreis ist wirklich zu sehen, das Viereck ist wirklich zu sehen, die ganze Wahrheit aber ist der Zylinder. Du musst alles von allen Seiten betrachten, sagte der Zellengenosse.Charly bewegte das 16er-Blech in seiner Trinkhand. Stell dir vor, das 16er-Blech ist das Gefängnis, hatte der Zellengenosse gesagt. Aus dem Blickwinkel der Insassen ist es eine verlorene Zeit, in der man das Interesse an allem verliert, sogar an der Masturbation und an Sudoku, und in der man wegen Abstumpfung kein besserer Mensch werden kann. Aus dem Blickwinkel des Justizministeriums dient das Gefängnis mit seiner abschreckenden Wirkung der Generalprävention, der Verbrechensvorbeugung. Aus der Sicht der Liberalen ist es eine Schule des Verbrechens: Effizienter sei der außergerichtliche Tatausgleich. Oder die Fußfessel. Aus der Perspektive der Rechtspopulisten kann es nicht genug Gefängnisse geben. Aus der Perspektive radikaler Gesellschaftskritik ist es eine Institution, die für den Ausschluss von Menschen zuständig ist, denn für dieses Gesellschaftssystem ist die ständige Reproduktion einer Schicht von Ausgeschlossenen existenziell. Charly, der weiß, dass er nach neun Jahren Schmalz immer der Ausgeschlossene sein wird, hat somit im Knast gelernt, wie systemstabilisierend die – wie er selbst – aus der Bahn Geworfenen sind. Zufrieden bestellt sich der Haftentlassene Charly K. ein zweites 16er-Blech. Die Fähigkeit und die Bereitschaft, von nun an alles von allen Seiten zu betrachten, macht ihn keinen Deut job-ready, sie macht ihn dafür zu einem überqualifizierten Ausgesonderten. (Aus dem Buch «Wie bleibt der Rand am Rand», Mandelbaum Verlag).

J e d e dieser Sichtweisen auf das Gefängnis zuzulassen, kommt für uns nicht in Frage. Andrerseits liegt uns auch nicht ein missionarischer Eifer mit dem Ziel, das Ende aller Bestraferei einzuleiten. Zumindest drei umfangreichere Texte in der vorliegenden Nummer verleiten zur Einsicht, dass der Weg zu einer gefängnislosen Gesellschaft und der entsprechenden Transformation des Justizapparats mitsamt seiner Richter_innen und Staatsanwält_innen noch ein sehr breiter ist. Und dass man die Zeit bis dorthin nutzen sollte, innerhalb der bestehenden Rechtsprecherei und des Strafvollzugs möglichst viel Menschlichkeit walten zu lassen.

Erstens wäre es höchst an der Zeit, hellhäutige gebürtige Österreicher_innen gegenüber zugewanderten Dunkelhäutigeren zu entprivilegieren. Die von den Boulevardmedien zelebrierte Festnahme von vier jungen Männern aus der Dominikanischen Republik, die mangels wirklicher Kriminalitätseskalation im relativ ruhig anlaufenden Neujahr als «Angst und Schrecken verbreitende U-Bahn-Bande» neuerfunden wurden, ist für eine engagierte Rechtsanwältin ein staatsanwaltlicher Angriff auf die Rechtsstaatlichkeit (Seite 14). Zweitens sollte verhindert werden, dass Untersuchungshäftlinge, von deren Schuldlosigkeit man notwendigerweise ausgehen muss, ihre Haft nicht härter empfinden als die Strafhaft nach dem Urteil. Sie immer wieder bis auf die Haut zu entkleiden und dann in alle Körperöffnungen zu dringen, um nach der SIM-Card zu suchen, ist Folter (Seite 8). Drittens sollten Gerichtsverhandlungen frei von Zynismen gegen die Angeklagten sein. Gleiche Augenhöhe aller in so ein Verfahren involvierten Menschen – das wäre eine Justizreform, die den Namen verdient (Seite 10).

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