Anonymous in Grado?Dichter Innenteil

Der weitläufige Campo Patriarchi Elia in Grado ist an einem Dienstag um halb drei Uhr nachmittags so menschenleer wie der Südpol, die adriatische Sommersonne heizt die Pflastersteine einem Brennglas gleich auf. Die Basilica Santa Maria delle Grazie am Campo Patriarchi Eli ist dank einer radikalen Restaurierung, die diverse Behübschungen des Barock entfernt hat, heute wieder pures viertes Jahrhundert, eine frühchristliche Säulenbasilika mit offenem Dachstuhl.

Vom Campo Patriarchi Elia sind es vier Stufen auf ein kleines Plateau, dann steht man vor einer uralten, relativ kleinen Kirchentür und ist gespannt auf den Eintritt in ein anderes Zeitalter, vermittelt durch einen einfach-eindrucksvollen Kirchenraum, der in das ewige Halbdunkel der europäischen Geschichte gehüllt zu sein scheint. Schwitzend, aber demütig trete ich ein.

 

Ein paar Meter vor dem Altar, der durch eine mit Pfauen-Reliefen geschmückte, knapp hüfthohe Marmorschranke vom übrigen Sakralraum getrennt ist, liegt eine männliche Gestalt in seltsamer, inszenierter Pose auf dem Steinboden der uralten Kirche. Der auf dem Rücken liegende Körper ist fast vollständig von einem altertümlichen schwarzen Mantel verdeckt, dessen Falten kunstvoll drapiert sind. Das Gesicht des Mannes ist hinter einer Anonymus-Maske verborgen. Ein aus dem ausgestreckten rechten Arm des liegenden Gradenser Guy Fawkes vulgo V ragendes Kurzschwert zeigt auf die nach Osten ausgerichtete Apsis. Links von der liegenden Gestalt mit ihren seltsamen Attributen steht auf einem Stativ ein moderner Fotoapparat, auf den die ganze Inszenierung ausgerichtet ist. Dahinter eine junge Frau, offenbar die Fotografin. Im Halbdunkel des linken Kirchenschiffs vermeine ich noch ein paar junge Menschen zu erkennen. Erschrocken trete ich ein, zwei Schritte zurück, öffne die eben zugefallene Kirchentür hinter mir und retiriere eilig auf den Campo Patriarchi Elia bzw. auf das kleine erhöhte Plateau vor der Basilika.

 

Anonymous in Grado? Oder eine Kunstaktion? Ein jugendliches, privates Happening? Oder doch nur ein provokanter Studentenulk? Probt hier in der Basilika Santa Maria delle Grazie, einer der zwei bedeutenden, altehrwürdigen Stadtkirchen Grados, die kreative Gradenser Jugend, ansonsten gnadenlos eingespannt in die Belange des Massentourismus, in die Zwänge einer geradezu totalen Dienstleistungsgesellschaft auf der Isola del Sole symbolhaft den Aufstand?

 

Als ich die Kirchentür wieder öffne, und erneut in die halbdunkle Kühle des 4. Jahrhunderts trete, ist Guy Fawkes verschwunden. Nur das Stativ mit der Kamera steht noch dort, wo ich es eben gesehen hatte. Auf den Kirchenbänken im linken Seitenschiff sitzen vier Mädchen bzw. junge Frauen und ein ziegenbärtiger, junger Mann, allem Anschein nach studentische Jugend. Ungeduldig lächelnd warten sie meine Besichtigung der ansonsten menschenleeren Kirche ab, die Fotosession konnte offenbar durch mein jähes Erscheinen noch nicht zu Ende geführt werden.

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Von Santa Maria delle Grazie gehe ich durch die Calle Lunga, Richtung Westen. Im ersten Haus am Beginn dieses schmalen Gässchens, nur wenige Meter vom frühchristlichen Heiligtum der Basilika entfernt, bietet ein großer Esoterikshop eine Vielzahl von Statuen des großen Buddha und allerlei indischer und asiatischer Gottheiten mitsamt den entsprechenden liturgischen Geräten und Substanzen zum Verkauf an. Der Brodem von Räucherstäbchen vermischt sich mit den Düften eines Fischrestaurants, das im gleichen Altstadthaus untergebracht ist. Nach dem Restaurant kommt mir ein offensichtlicher Tourist wie ich mit einem geradezu riesigen Fotoapparat entgegen, der ein verschwitztes T-Shirt mit der Aufschrift «I hear voices» trägt.

Nach ein paar Dutzend Schritten öffnet sich die Calle Lunga in den Campo San Niceta, einen der schönsten und intimsten Plätze der Gradenser Innenstadt. In einer großen Pizzeria bestelle ich einen Caffè Latte und ein San Pellegrino und denke, dass die Maske von V, das Symbol einer wie auch immer gearteten Revolution gar nicht mal so schlecht zu einer frühchristlichen Hinterlassenschaft passt. War das ganz frühe Christentum nicht auch eine widerständige, ja geradezu aufständische Religion? Waren die meisten seiner frühen Anhänger, von den Märtyrern einmal abgesehen, nicht auch anonymous – schon allein aus Selbsterhaltungsgründen?

 

Während ich den Kaffee genieße, trifft in der Osteria Sandra an der südöstlichen Ecke des Platzes dann und wann der eine oder andere kurzgeschorene Einheimische in Military-Shorts ein, der den im Schanigarten Anwesenden, meist älteren, Weißwein trinkenden Männern den faschistischen Gruß entbietet. Grado ist schließlich nicht anders als Italien, als Europa. Anonymous, wenn es sie denn überhaupt gibt, wird hier noch viel zu tun haben.

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Ahmed hat es seiner Meinung nach geschafft. Er trägt eine fröhlich karierte Short, ein unwahrscheinlich buntes Urlauberhemd und einen kleinen Strohhut mit einem schwarzen Hutband und ist damit von den meisten seinen Kunden nicht mehr zu unterscheiden. Auch das Handy, das er gerne und ostentativ oft benützt, wobei nicht sicher ist, ob es immer eingeschaltet ist, trägt dazu bei, die Erinnerungen an Lampedusa zurückzudrängen.

 

Ahmeds Geschäftslokal ist eine von einer riesigen, uralten Strandkiefer beschattete Parkbank an einem Ende des Giardini Marchesan an der Kreuzung der Viale Dante Alighieri mit der Via Guglielmo Marconi in Grado. Ein, zwei Meter vor der Sitzbank fällt das Gelände des kleinen Parks, der nach Prof. Marco Marchesan, einem 1899 in Grado geborenen Hypnotiseur und Psychologen benannt ist, in eine von Blumenrabatten gezierte Böschung ab, die von einer alten Tuffsteinmauer in Kniehöhe zur Straße hin begrenzt wird. Dort hat Ahmed, der sich gerne Marco nennen lässt, wohlgeordnet seine gesamte Ware zur Ansicht ausliegen, ein, zwei Dutzend kunterbunte Badetücher, ein paar Strandkleider und noch einmal ein Dutzend Badetaschen. Wenn sich jemand auch nur im Geringsten dafür zur interessieren scheint, steigt Marco eilig das Rabattl herunter und beginnt seine Verkaufsshow, die durch maghrebinisch-italienische Expressivität und Fröhlichkeit besticht. Besonders die Damen schätzen seine Auftritte, die man durchaus auch als pantomimisches, durch italienische, deutsche, englische oder bei Bedarf auch russische Sprachbrocken unterstütztes Freilichttheater bezeichnen könnte.

 

Wenn es ihm nach ein paar Stunden auf der Parkbank zu langweilig wird, borgt er sich einen der braunen Plastiksessel der Bar «Coco Gombo» aus, deren Schanigarten von seinem Warenlager nur zwei, drei Meter entfernt ist. Die Kellnerinnen und Kellner, meist Studenten, die selbst nicht gerade zu den Gewinnern der gegenwärtigen italienischen Gesellschaft zählen, lassen ihn zumeist gewähren, obwohl er dort wohl nie etwas konsumieren wird. Wenn es dunkel wird, räumt Ahmed sein Geschäftslokal und marschiert zu Fuß nach Pineta, wo er ein Zimmer ohne Aussicht mit zwei weiteren Flüchtlingen teilt.

 

Der Straßenhändler vom Marchesan-Park ist für die alteingesessene Gradenser Kaufmannschaft keine Konkurrenz, jedenfalls nicht wirklich. Den Verkauf von billigen, wenig einträglichen Artikeln wie Freundschaftsarmbändern, Badetüchern und China-Sonnenbrillen wurde in Grado, so scheint es, längst diversen Einwanderern überlassen. Keine zwanzig Meter von Ahmeds mobilem Verkaufsstand betreibt ein Inder ein Geschäftslokal, in dem alles, was es bei dem Straßen- bzw. Parkhändler zu kaufen gibt, in zigmal größerer Auswahl zu haben ist. Dieser kann nur über den Preis und vor allem über seine expressive Verkaufsshow punkten.

 

Ahmed-Marco meint, er habe einfach Glück gehabt. Wahrscheinlich nur aus purem Zufall wurde er nicht von Ghadaffis Grenzwächtern und Schergen, die von der Berlusconi-Regierung für ihre Dienste bezahlt wurden, geschnappt und zu Tode geprügelt. Er ist auch nicht im Mittelmeer ertrunken und er hat es schließlich geschafft, aus Lampedusa auf das italienische Festland zu gelangen. Trotzdem will er sicherheitshalber nicht darüber reden, aus welchem Land Nordafrikas er gekommen ist oder gar darüber, wer ihm zur Flucht nach Italien verholfen hat, auch kein Wort darüber, wie er es bis Grado geschafft. Fotografieren will er sich schon gar nicht lassen. Wer als Flüchtling die Festung Europa überwunden hat, hat das Schweigen gelernt. Die vielen, die beim bloßen Versuch umgekommen sind, schweigen sowieso. Für immer. Auch die Stimmen derer, die wieder in die Slums von Lagos, in die Lager von Smara usw. abgeschoben wurden, bleiben in der Festung Europa unhörbar. Schließlich sagt Ahmed auf Italienisch: «Ich komme aus einem Land, in dem nur die Steine wachsen, die Steine und der Hass.»

 

Gleich nördlich des Marchesan-Parks liegt der westlichste Eingang zur Spiaggia Principale, dem belebten Hauptstrand von Grado, der von der kommunalen Grado Impianti Turistichi (G.I.T.) kommerziell betrieben wird. Eine Lizenz zum Verkauf auf diesem Strand ist der Lebenstraum von Ahmed. Er wird vermutlich unerfüllt bleiben.