BaumrindenritzenDichter Innenteil

Nein, es ist kein Motorrad, das knatternd den Hügel vor seinem Haus hinaufdonnert, und er träumt auch nicht von einem schrillen Zahnarztbohrer in seinem Mund, in seinen Schlaf dringen die Geräusche einer Motorsäge, die in den Wald heult, Anlauf nimmt, ihre Drehzahlen hören lässt, rasselt, rattert, bereit ist, den Todesstoß zu versetzen, und jetzt ist es so weit.

Er ist längst aufgesprungen, zum Fenster gerannt, hat es aufgerissen, das Fenster seines Hauses, das direkt an der österreichisch-ungarischen Staatsgrenze steht, das Fenster, von dem aus er die verfallenden Behausungen der Grenzwächter, umgestürzte Grenzpfähle, verrostenden Stacheldraht und den Wald, diesen ganz besonderen Wald sehen kann diesen Wald, der Zeugnis gibt von einer Geschichte der Grenzabriegelung, die vor über 60 Jahren begann und ihre Spuren bis heute zieht.

1948 hatte es begonnen, drüben, dort drüben hatten die Kommunisten die Macht übernommen, die Pläne sahen Stacheldrahthindernisse und Minenfelder vor, die ab einem lauen Frühling im Jahr darauf in einer Länge von 356 Kilometern an der österreichischen Grenze errichtet wurden. An der inneren Seite des Drahtzauns wurden in vier bis sechs Reihen Tretminen verlegt, davor lagen in zwei bis drei Reihen Berührungsminen. Da war sie, die Grenze der einen Million Minen.

Wie viele Grenzsoldaten dazu? Er wusste es nicht, aber ihre Spuren fand er seit Jahren im Wald. J. J. 19731975; 398, 365, 363, 362, 354, 347, ….12, hatte einer in die Haut einer hochgewachsenen, schlanken Buche geritzt, die Umrisse der Buchstaben und Ziffern hatten sich im Laufe der Jahre verbreitert, standen jetzt mächtig und unübersehbar da. Was mochte die Zahlenreihe bedeuten, und warum endete sie gerade mit der Ziffer Zwölf? Ein anderer hatte das Jahr 1940 verewigt und dazu den Namen und die nackte Gestalt einer Frau, einer Geliebten? Auch Lajos Kovacs war wohl da gewesen, 1958, und unzählige andere. Vor fünf Jahren waren ihm erste Schriften auf den Stämmen der Buchen in seinem Wald aufgefallen, dann hatte er sein Auge immer mehr darauf gerichtet, war auf zahllose gezeichnete Bäume gestoßen, auf Inschriften, Kritzeleien, versuchte Kunst. Ja, sie hatten sich die Buchen ausgesucht, um sich zu verewigen, die Buchen, deren Holz so weich war, dass sie auch mit einem wenig scharfen Messer leicht zu verletzen waren.

Mit welchen Messern mochten die Grenzsoldaten ihre Buchstaben, Zahlen und Zeichnungen in die Bäume geritzt haben, wie lange mochte einer gebraucht haben, bis er eine freche nackte Dame mit Pfeife im Mund ins Holz geschlagen hatte, was mochte sie alle bewogen haben, der Welt des Waldes mitzuteilen, dass sie hier gewesen waren? Sie, die zur Menschenjagd abgestellt waren, jetzt wie kleine Buben oder Touristen naive Zeichen des Selbst setzend. Oder war es Angst, die sie trieb, Angst, von der Welt vergessen zu werden, da sie für Jahre in diesem einsamen Waldgebiet stationiert waren, kaum einen Menschen zu Gesicht bekamen?

Wie es auch gewesen sein mochte, auch das war gewesen: 1957 wurde in dem Gebiet, in dem zu leben sie gezwungen waren, ein elektronisches Signalsystem installiert, das jeden Versuch, die Grenze zu überwinden, meldete. Stolperdrähte kamen hinzu, und sie wurden mit modernster Gerätschaft ausgerüstet. Minen und noch mehr Minen wurden dann doch wieder gelegt. Die Grenze stand unter totaler Kontrolle, die Auslösung eines Signals setzte automatisch 40 bis 60 Grenzsoldaten, in begründeten Fällen sogar bis zu 400 Grenzwächter in Bewegung.

All das wurde dann obsolet. Der Vorhang wurde geöffnet, die Menschen heiraten wieder über die Grenze, schon lange werden nach heftigen Regengüssen keine Minen mehr herübergeschwemmt. Was blieb waren die Inschriften in den Bäumen, denen er seit drei Jahren systematisch nachging, sie mit seiner Kamera einfing, die Fotos selbst entwickelte, in seinem Haus aufhängte. Für ihn Zeugnisse von Träumen und grenzenloser Sehnsucht, und immer wieder schmerzt es ihn, wenn die Waldarbeiter mit ihren Motorsägen kommen.

Jetzt fällt der Baum. Er ächzt und knarrt noch einmal in seinen letzten Zügen, dann ein unheimliches Rauschen und Rascheln, ganz anders als das Geräusch des Windes. Der Baum ist tot und mit ihm Ladislaus 1949 1950 1951 1952 und die nackte Frauensilhouette, deren Konturen über 63 Jahre zu immer größerer Schönheit herangewachsen waren.

 

Info:

„grenzwaldpoesie“

Fred Misik

Fotografie Gipsguss Frottage

Eröffnung am Freitag, 4. 12. 2009

Geöffnet: 4. 12.19. 12. 2009 und 8. 1.16. 1. 2010

Freitags und samstags 1721 Uhr

Der Eintritt ist frei.

das kabinett

Brunnengasse 19

1160 Wien

www.daskabinett.at