Das TellerfleischDichter Innenteil

Meine Mutter hat immer einen schrecklich ausgehungerten Eindruck auf mich gemacht. Gierig nach seelischer, körperlicher Nahrung. Ich fürchtete ihre unterdrückte Gier. Sie machte mich auch immer verantwortlich dafür, dass es ihr schlecht ging, dass sie erschöpft, dass sie ausgelaugt sei, weil ich ihr zu wenig helfe.

Ich spürte, dass ich nie genug hätte tun können, ich konnte mich nur durch Flucht und Abstand vor ihrer Vereinnahmung retten. Das Blöde bei ihr war, dass ihre Gier nach etwas Seelischem, nach einer seelischen Leistung nach längerer aufgestauter Enttäuschung umschlug in Hass. Es gab Wutanfälle, Schimpf- und Schlagorgien. Ich meine, dass noch immer Reflexe bei mir aktivierbar sind.

Ulli kann sich die folgende Situation nicht vorstellen: Als ich so 10 bis 14 Jahre alt war, hat mich Mutter immer als ihren Tragesel organisiert. Das sah so aus: Am letzten Monatssonntag holte sie bei der Wirtin immer das Milchgeld ab. Die Molkerei deponierte das Milchgeld bei der Wirtin. In einem Kuvert. Sie trug mir auf, dass ich nach der Kirche zu dem Wirtshaus hehe und auf sie dort warte. Entweder war sie schon da, dann saß sie schon in der Gaststube am Tisch nahe dem Tresen, oder ich war früher da als sie, dann wartete ich vor dem Gasthaus. Sie holte das Geld ab, setzte sich für eine Weile hin, nutzte die Gelegenheit für einen Tratsch mit der Wirtin und bestellte immer dasselbe: ein Tellerfleisch. Großer Suppenteller mit Nudeln und einem großen Stück Rindfleisch, meist Fett an einem Ende. Für mich keine Verlockung. Würstel wäre meine Sache gewesen. Mutter löffelte und schmatzte. Ich saß daneben und wartete. Sie kaufte mir nix. Mit einem der Tausender aus dem Kuvert zahlte sie und dann ging sie mit mir an der Seite zum Kaufmann, zur Kauffrau. Dort kaufte sie ein.

Bestellungen und Erzählschwall

Ihre Bestellungen kamen stoßweise aus ihr heraus. Zwischendurch verlor sie sich in Erzählungen, was wieder die Kauffrau zu inspirieren schien, ihrerseits einen Erzählschwall zu produzieren. Die Kauffrau besorgte und schaffte herbei, was sie von dem behielt, was meine Mutter angesagt hatte. So ging es immer hin und her. Ein Abschnitt aus der Bestellliste, die Kauffrau drehte sich dahin und dorthin, und der Berg auf dem Tresen wuchs. Dabei erzählte sie mal mit Bezug auf das, was sie von ihrer Kundin gehört hatte, mal schien mir ihre Erzählung von was ganz anderem zu handeln. Dann legte wieder meine Mutter los. Und so weiter. Als sich genug Ware auf dem Tresen angesammelt hatte, um meinen Sack vollzukriegen, füllten ihn die beiden Frauen an, wobei die Kauffrau mit flinker Hand die Registrierkasse bediente. Die Kauffrau holte aus einem der Fächer ihres Tresens ein Schnurstück hervor und band das Sackende zu. Es ist besser so, sagte sie, bei Kindern weiß man ja nie, was sie aufführen, wenn der Sack schwer und der Weg lang ist. Dann schickte meine Mutter mich auf den Heimweg.

Lola, meine Frau, meinte, ich wäre doch gewiss eifersüchtig gewesen auf das Tellerfleisch und den wohlschmeckenden Saft, den sie dazu trank. Sie meinte, sicher hätte ich auch gerne was gegessen. Nein, sage ich mit vollster Sicherheit, es war mir nicht danach. Ich war froh, dass es ihr schmeckte und dass sie endlich was für sie tat. Ich fühlte mich so lange entlastet, als sie aß und die Beschäftigung mit dem Essen ihr sichtlich Vergnügen bereitete. Ich durfte hoffen, solange es ihr schmeckte, würde sie mich nicht bedrängen, etwas für sie zu tun, würde ich nichts für ihr Glück tun müssen. Lola musste sich wundern. Ich bin mir sicher, dass ich nicht alleine bin mit meiner Erfahrung.

Aus: «Soziale Nullen» von Sylvia Bee und Sebastian Eff.

«… familiär unterversorgte Kinder, ‹Ledige›, Waise, in Pflege, ungeschützt, ungeliebt, ungeachtet, misshandelt, ausgebeutet und von der Behörde und den Kirchen verhöhnt. Erzählungen von Alten, die als Kinder schweigen mussten, eine Analyse über Kinder im Kapitalismus»

Erschienen 2015 im Eigenverlag der GPR. 187 Seiten. Erhältlich in den Buchhandlungen: ÖGB Fachbuchhandlung, Rathausstraße 21,1010 Wien, Lhotzkys Literaturbuffet, Rotensterngasse 2, 1020 Wien, und Frick International, Schulerstraße 1–3, 1010 Wien. Preis: 10 Euro