Der Fußball, die Weltpolitik und der liebe GottDichter Innenteil

Wiener Ausfahrten

Ausfahrten.jpg(In der letzten Folge erzählte Groll vom Aufstieg des FC Voest Alpine Krems).Leider dauerte die große Zeit der Mannschaft nur kurz. Die Kubaner emigrierten nach den USA weiter, die Tschechen wechselten zum Tennisverein und feierten dort Seriensiege, einzig die Zeppelzauers hielten dem Verein die Treue und taten, was sie am besten konnten, gegnerische Stürmer an der Mittellinie niedersäbeln. Sie nannten das taktische Fouls im Gegensatz zu so genannten Notbremsen, die eingesetzt wurden, wenn doch einmal ein Stürmer die Verteidigerreihe hinter sich ließ und sich in Richtung Tor aufmachte.

Die Notbremse kam einem Mordversuch auf offenem Feld gleich, und nicht selten verzichteten gegnerische Stürmer, die irrtümlich durch die schwerfällige Verteidigung spaziert waren, darauf, dem Voest-Tormann ihre Aufwartung zu machen. Sie verloren die Orientierung und liefen zurück, sie stolperten und beschwerten sich über den holprigen Platz oder sie schossen aus viel zu großer Entfernung aufs Tor.

Was ist schon ein erfolgreicher Torschuss gegen eine zertrümmerte Kniescheibe!, sagte der Dozent.

Oder einen Milzriss, ergänzte Groll. Die Zeppelzauers attackierten grundsätzlich in Hüfthöhe.

Der Dozent nahm einen Schluck von seinem Holundersaft. Und was geschah mit dem Tormann?

Groll seufzte schwer und legte beide Hände vor sich auf den Tisch.

Das ist eine tragische Geschichte. Rio verunglückte nach einer durchzechten Nacht mit seinem Motorrad. Damals trugen nur Finanzbeamte und Sozialarbeiterinnen einen Helm, und so zerschellte der Panther von Lerchenfeld an einem Telegrafenmast in der Wiener Straße. Tagelang klebte seine weiße Gehirnmasse noch an dem Mast, und wenn wir ins Gymnasium nach Krems radelten, riefen wir im Vorüberfahren immer ehrfurchtsvoll Servus Rio. Wir waren zwar ungebildete Arbeiterbuben, aber wir wussten, was sich gehört.

Wahrlich eine schlimme Geschichte, murmelte der Dozent.

Groll zog den Silberlöffel aus der Suppe und wandte sich wieder der Erzählung zu.

Der Einmarsch der Warschauer-Pakt-Staaten in die CSSR sollte sich wie ein langer Schatten über meine fußballerische Karriere legen. Mit einigem Recht kann ich behaupten, ein Opfer der Weltpolitik und ihrer Verwerfungen zu sein. Wer weiß, bei welchem internationalen Großklub ich Furore gemacht hätte? Wer weiß, vielleicht würde ich Real Madrid oder den AC Milan jetzt trainieren? Ich wäre sogar schon mit dem Job eines Trainers der englischen Nationalmannschaft zufrieden, ich bin nicht hoffärtig, man muss auch verlieren können. Nur den Posten eines österreichischen Nationaltrainers würde ich ausschlagen, und wissen Sie auch, warum?

Der Dozent sah überrascht auf.

Groll fuhr fort.

Österreich ist das einzige Land, in dem das Publikum die Leistungen der Nationalmannschaft systematisch unterläuft. Gemeiner und niederträchtiger sind Fußballer und Trainer noch nicht behandelt worden wie in diesem Land. Die Klubs werden denn auch von größenwahnsinnigen Feudalfürsten und nicht von Geschäftsleuten geführt wie in anderen Staaten. Dass der Präsident des ÖFB von den Österreichischen Lotterien kommt, ist auch kein Zufall. Aber zurück zur Weltpolitik und meiner Fußballkarriere.

Ich erwähnte bereits, dass ich Ende August 1968 im Dress des FC Voest Alpine Krems als Linksaußen im Austadion zu Krems-Stadt debütierte, fuhr Groll fort. Ich war damals sehr schlank, dafür aber auch nicht groß gewachsen. Aber ich war technisch gewandt, trickreich und mied Zweikämpfe wie einst der Papierene.

Pardon? Der Dozent hielt in seinen Notizen inne.

So lautete der Spitzname von Matthias Sindelar, dem berühmtesten Stürmer des Wunderteams. Ein Ronaldinho der dreißiger Jahre, ein Driblanski von Rang.

Driblanski?

Verehrter Herr Dozent, Sie müssen noch viel lernen. Dass gerade Sie über Fußball arbeiten, ist eine böse Fügung des Schicksals. Aber was solls, in der Wirtschaftspolitik machen bei uns auch nur Grabsteinverkäufer und Jaguar-Händler Karriere. Und die Sozialpolitik wird von Arbeiterkämmerern und Gewerkschaftern beherrscht, die andauernd von sozialer Kälte reden, das Wort sozial aber mit ts schreiben. Setzen wir fort: Selbst der engste Dress war zu weit für mich. Ich glaubte, im Freien zu stehen, und wenn ich als quirliger Linksaußen durch die Gegner tanzte, spürte ich, dass Hose und Leibchen flatterten wie ein Großsegel beim Einholen. Despektierliche Äußerungen über meine Leichtgewichtigkeit überhörte ich keineswegs, ich merkte mir die Übeltäter und gab ihnen bei der nächsten sich bietenden Gelegenheit ein Gurkerl.

Sie führten während des Spiels Verpflegung mit sich?

Verehrter Dozent! Gurkerl bedeutet in der Fußballersprache, dass man den Ball durch die Beine des Gegners schiebt. Dieser Trick gilt als größtmögliche Demütigung. Nicht wenige Verteidiger von Ehre pflegten sich nach einer derartigen Katastrophe zu entleiben.

Ich verstehe. Entleiben. Der Dozent schrieb weiter.

Während des besagten Spiels Ende August 1968 ereignete sich ein folgenschwerer Vorfall.

(Welcher Art dieser Vorfall war, folgt in der nächsten Nummer)