Der smarte Sozialminister, der tobende Landeshauptmann und die WirtshauskulturDichter Innenteil

Herr Groll auf Reisen. 253. Folge

An einem milden Märztag des Jahres 2015 saßen Groll und der Dozent neben dem Tankhafen der MOL-Raffinerie in Korneuburg an der Donau. Der Dozent hatte Zeitungsausschnitte mitgebracht.

«Die Arbeitslosigkeit steigt, und die Sozialleistungen werden beschnitten», sagte Groll nach der Lektüre einiger Artikel.

Foto: Mario Lang

«Bislang war es immer so, dass die Mittel für aktive Arbeitsmarktpolitik mit steigender Arbeitslosigkeit anwuchsen. Dieser Zusammenhang gilt seit heuer nicht mehr. Das erste Mal seit 1945 sinken die Ausgaben für aktive Arbeitsmarktpolitik trotz steigender Arbeitslosigkeit, und zwar um 160 Millionen Euro. Für das kleine Österreich ist das ein ordentlicher Brocken.»

«Und Sozialminister Hundstorfer erklärt mit sanfter Stimme, dass es woanders noch schlimmer ist», ergänzte der Dozent. «Eine lahmende Ökonomie fordere ihren Tribut.»

«Besser, Sie sprechen von einer stagnierenden Ökonomie», warf Groll ein. «Ich lahme seit Jahrzehnten und komme dennoch weiter. Neulich war ich sogar in Tulln.»

Der Dozent lächelte.

«Was sagen Sie dazu, dass die Ausgleichstaxe für Betriebe, die ihre Einstellungspflicht für behinderte Arbeitnehmer nicht erfüllen, seit Jahrzehnten unverändert niedrig ist, dass aber die eingenommenen Gelder nur zum kleinen Teil dafür verwendet werden, behinderte Menschen im Arbeitsmarkt zu halten oder zu integrieren?»

«Es handelt sich um eine progressive Verbilligung der Strafe», erwiderte Groll. «Man kann darin auch eine verdeckte Aufforderung des Staates an die Betriebe und Dienststellen erkennen, keine behinderten Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer einzustellen. Sie wissen, dass nicht nur private, sondern auch viele staatliche und halbstaatliche Betriebe und Kammern ihre Einstellungsverpflichtung von einem behinderten Arbeitnehmer pro 25 Beschäftigte nicht erfüllen und dafür eine Pönale von 248 Euro (bei Großbetrieben etwas mehr) zahlen. Zusammen mit der Aussetzung des verstärkten Kündigungsschutzes für behinderte Arbeitnehmer, die 2012 mit Zustimmung der Behindertendachorganisation und auf Antrag des ÖVP-Behindertensprechers Huainigg in Kraft getreten ist, führen diese Entwicklungen dazu, dass die reale Arbeitslosenrate vermittelbarer und gut ausgebildeter behinderter Arbeitnehmer von einem Drittel auf rund 50 Prozent angestiegen ist. Wir haben da griechische Verhältnisse.» Er hob das Fernglas an die Augen, denn in der Biegung des Flusses hatte er ein Schubschiff ausgemacht.

Der Dozent erhob sich und schüttelte die Beine aus. «Aber der Sozialminister verschweigt sich. Auch von den Behindertenorganisationen und dem ÖVP-Abgeordneten Huainigg kommt kein Wort des Bedauerns oder gar der Scham. Und wie immer schweigt auch die SPÖ Behindertensprecherin.»

«Wir wollen aber nicht vergessen, wer den behinderten Menschen Österreichs diese Sauerei eingebrockt hat: ihre politischen Vertreter», ergänzte Groll. «Einzig Bundesbehindertenanwalt Buchinger protestiert lautstark.»

«Dass Landeshauptmann Pröll sich neulich leidenschaftlich gegen die Barrierefreiheit in der Gastronomie ausgesprochen hat, passt da ins Bild», sagte der Dozent und hockte sich wieder neben Groll. *

«Was heißt leidenschaftlich? Er bekam einen Tobsuchtsanfall!», korrigierte Groll. «Dass Barrierefreiheit nach einer EU-Richtline bis Ende 2015 hergestellt werden muss, ist ja erst seit 2005 bekannt. Sie können doch von der Wirtschaftskammer und den Restaurantbetreibern nicht erwarten, dass die innerhalb von zehn Jahren reagieren! Da ist es doch naheliegend, ein Gezeter anzustimmen. Krüppel in der Schankstube: Wo kommen wir denn da hin! Und der Landeshauptmann beeilt sich, das Sprachrohr für seine bedrohten Wirtshäuser und deren speiübler Wirtshauskultur abzugeben; diese Nobelgaststätten – von anderen rede ich erst gar nicht –, die weder Behindertenparkplatz noch einen barrierefreien Zugang und benützbare Sanitärräume aufweisen. Ich nenne als dunkle Beispiele das Landgasthaus Bacher in Mautern, den berühmten Jamek in der Wachau, die Betriebe des politiknahen Herrn Mörwald, der mehrfach mit Steuergeldern gerettet wurde, und jenen Betrieb des Herrn Gass dort vorn, das Donaurestaurant ‹Tuttendörfl›, das ständig umgebaut und erweitert wird, aber noch immer nicht barrierefrei ist, sodass man nicht Ahnungslosigkeit, sondern den bewussten Ausschluss bestimmter Gäste dahinter vermuten muss. Unschwer ließe die Liste sich auf hundert erweitern.»

«Aber am 1. Jänner 2016 werden die zivilisatorischen Blindgänger ihr Karthago erleben», sagte der Dozent und bat um das Fernglas.

Das glaube er kaum, erwiderte Groll. «Es wird beim Waterloo für uns behinderte Menschen bleiben. Denn die gesetzlichen Grundlagen zur Erzwingung von Barrierefreiheit sind in Österreich nicht vorhanden. Sie können höchstens im Rahmen einer bürokratischen und entwürdigenden ‹Schlichtung› die Feststellung begehren, dass Sie diskriminiert wurden, verehrter Freund. Ein Zwang zur Beseitigung der Ausgrenzung ist damit nicht verbunden. Das sieht das Gesetz mit dem heuchlerischen Namen ‹Behindertengleichstellungsgesetz› nicht vor.»

Der Dozent schwieg. Durchs Fernglas verfolgte er die Passage der «Barbara Blomberg» aus Bayern.

* ORF 1, Pressestunde, 22. 2. 2015

Anm.: Es gibt in Erwins Country einige seltene Beispiele für Barrierefreiheit wie das «wellen.spiel» und das Arte-Hotel in Krems-Stein und den «Goldenen Anker» an der Fischamender Donau. In beiden Fällen war Eigeninitiative der Besitzer der Auslöser.