Der Zug der HeimkehrDichter Innenteil

RuudFrau.jpgLangsam und unsicheren Schrittes stieg das Paar in den Zug. Beinahe alle Plätze der zweiten Klasse waren besetzt. Der angstvolle Blick der Frau wanderte durch den Waggon. Sie musste ein Plätzchen für Anselmo finden. Der arme Mann bewegte sich kaum; er war erschöpft und krank. Sie stützte ihn, und fast zog sie ihn hinter sich her. Unter den zahlreichen Passagieren, die alle aus der Provinz stammten und sich zwischen Tränen des Abschieds, wohlwollenden Ratschlägen und Worten des Grußes auf dem Bahnsteig und im Inneren des Wagens drängten, wurde ein Mann auf das alte Paar aufmerksam, und nachdem er den beiden den Weg frei gemacht hatte, half er ihnen noch, auf einer der Bänke Platz zu nehmen.

Währenddessen ging das Drängen lautstark weiter. Es waren viele, die die Absicht hatten, Buenos Aires zu verlassen; die einen für eine gewisse Zeit, die anderen für immer. Auf den Gesichtern war der Ausdruck von Zufriedenheit zu lesen. Alle waren voll der Vorfreude auf die feuchte und dunstige Luft ihrer Provinz.

Auf die Spaziergänge durch diese kleinen, erdige Straßen, dort wo man den ohrenbetäubenden Lärm der Fabriken nicht kannte, dort wo noch das Rauschen des Windes und der wohlklingende Gesang der Vögel in den schlafenden Bäumen herrschten. Sie kehrten ins Grüne zurück, zu dem breit dahinfließenden Fluss, der sie immer um die Stunden, wenn die Sonne ihre Siesta hielt, erwartete, und zu dem zahmen Bach, der sich irgendwo verlor und dann zwischen den Büschen in den ruhigen Nächten auf dem Land wieder auftauchte.

Nur Fekisa Paredes empfand großen Kummer. Schon seit langer Zeit wollte sie zurückkehren. Aber nicht auf diese Weise. Sie spürte, wie der Kopf ihres Mannes auf ihrer Schulter ruhte. Sie schloß fest die Augen, während sie liebevoll die Hände ihres Gefährten drückte, die eiskalt waren. Ein Schauder des Grauens ergriff ihren Körper.

Wie viele Reisen wie diese hatten sie schon gemacht, doch keine war je so bitter gewesen. Sie kannte die Züge und ihre Wegstrecke bis in das letzte Detail. Die erste Reise hatten sie nach ihrer Heirat unternommen. Sie waren jung, und natürlich wollten sie die Hauptstadt kennen lernen. Darauf folgten mehr und mehr Fahrten im Zug. Die Frau dachte nach und rief sich verschiedene Dinge in Erinnerung, während die Menschen ringsum in Bewegung waren, ausstiegen, einstiegen, sprachen und schrien.

Sie hörte nichts. Ein Schleier der Abwesenheit umhüllte sie. Sie befand sich in ihrer Hütte. Anselmo wachte über den Asado, den Braten auf dem Grill, sie richtete unter dem Weidebaum den Mate an, während sich der Duft des Fleisches mit jenem des Brotes mischte, der aus dem alten Lehmofen aufstieg.

Dann waren da noch die Kinder, freie Kinder sie waren Kinder vom Land , die barfuß herumliefen unter der Weinlaube, damit ihnen die Erde nicht die Füße verbrannte. „Esst doch nicht diese warmen Trauben, das tut euch nicht gut“, rief der Vater, während er langsam zum Brunnen ging. Einen Kübel mit frischem Wasser zog er herauf. Dann kam Buenos Airos, die Fabrik, dass sie zusammengepfercht lebten, ohne genau zu wissen, warum: ohne Luft, ohne Früchte, aber mit vielen Dingen, die für sie und ihre Kinder, die anfangs immer weinten, weil sie zu ihrer Hütte zurückkehren wollten, viel schlimmer waren.

Der Ort, an dem es keine Freunde, nur Zeitpläne und Arbeit gab

Die Hütte. Dieselbe, die sie jetzt erwarten würde. Verloren irgendwo zwischen dem Unkraut und der Weinlaube, wie so viele andere verfallene Hütten. Denn die Zahl derjenigen, die das Dorf verlassen hatten in der Erwartung, in der Stadt mehr zu verdienen, war groß.

Der Zug begann sich leicht zu bewegen; träge Bewegungen versprachen die innig ersehnte Abfahrt. Die Reisenden fingen an, es sich bequem zu machen. Einige streckten sich aus, um auf dem Sitzplatz zu schlafen, andere bauten sich aus ihren Koffern zwischen den Sitzbänken ein Bett, der Munterste von allen hollte seine Gitarre hervor. Auf magische Weise füllte sich der Raum mit Duft von Essen, Wein, Zigaretten, Gespräch und Gesang. Es fehlte an nichts. Man versuchte, sich die Reise zu verkürzen. Eine alte Frau mit indianischen Gesichtszügen drehte eine Zigarette aus Maisblättern und zündete sie an. Eine jüngere Frau machte es sich bequem, um ihr Kind zu stillen. Die Fahrgäste schaukelnd, ratterte der Zug langsam weiter.

Felisa Paredes täuschte vor zu schlafen, damit niemand sie ansprach. Sie hatte keine Lust zu reden. Sie war zu sehr in ihre Erinnerungen vertieft. Ihre Erinnerungen. Sie hörte die Stimmen ihrer Kinder, die von Anselmo, die ihrer Freunde, doch es waren nur Stimmen; sie war allein. Allein und eingekreist von diesem Gemurmel aus der Vergangenheit.

„Es ist besser, wir bleiben hier. Wir werden zwar nicht so viel verdienen, aber wir können wenigstens in Ruhe leben.“ „Ja, aber wir müssen an die Zukunft der Kinder denken!“, sagte sie. „Und wenn sie zu essen haben und zufrieden leben können wie wir, was wollen sie da mehr!“, entgegnete ihr Mann. „Du gibst dich mit wenig zufrieden. Ich will das Beste für unsere Kinder. In der Stadt ist es anders.“ Und so gingen sie eben. Jener Winkel der Provinz war ihnen zu eng geworden. So viele Jahre, so viele Dinge. „Warum sind sie weggegangen? Warum?“, klagte die Frau. Sie kehrte jetzt zurück. Sie kehrte zurück, nachdem sie ihren Mann in der Fabrik entlassen hatten, weil er hustete. Er hustete so stark, daß er nicht mehr arbeiten konnte. Er brauchte frische Luft.

Und die Kinder, sie bleiben gefesselt, eingekerkert und verloren an diesem unbekannten Ort zurück, wo es keine Freunde, Verwandten, sondern nur Zeitpläne und Arbeit gab.

Die längste und schmerzvollste Reise ihre Lebens

Das Gemurmel der Erinnerung ließ sie nicht los. Wer sprach jetzt gerade zu ihr? Vielleicht ihr Dorf. „Du hast dich meiner erinnert, endlich. Ich wußte, dass dieser Tag kommen würde. Die Geister kommen immer zurück. Ich bin voll von Geistern, die durch meine Straßen, meine Häuser streifen, durch die Bäume des Friedhofs schweben, die sich in den mondlosen Nächten schütteln und so versuchen, die Geister los zu werden. Doch das nützt alles nichts. Sie sind hier. Ich könnte dir so viele Dinge erzählen, wenn du sie nur hören wolltest. Doch niemand will das. Jeder hat es eilig, mich zu verlassen. Sie sagen, dass sie bald zurückkommen und Errungenschaften mitbringen würden. Und alle sagen, sie würden das für mich tun, damit ich nicht dem Tod geweiht sei. Doch ich glaube, dass ich schon gestorben bin. Gestorben für diejenigen, die meinen, das Leben bedeute weggehen, Dinge anhäufen und von allen verlassen in fremder Erde sterben … Ich häufe Erinnerungen an. Von diesen Erinnerungen würde ich dir gerne erzählen, jetzt, wo ich dich bei mir habe. Bevor die Zeit mich endgültig auslöscht.“

„Zerate“, die Stimme des Schaffners riss sie aus ihren Gedanken. Es stieg niemand aus, alle setzten ihre Reise fort. Im Hafen wurden die Waggons langsam auf die Fähre verladen. Ein Schütteln, Stöße, und die Fahrt ging weiter. Deshalb aber auf dem Wasser. Felisa konnte der Versuchung, die Augen zu öffnen, nicht widerstehen. Und schon hatte ein Bekannter sie erspäht. „Guten Tag, Doña Felisa, wie geht es Ihnen? Seit so vielen Jahren haben wir uns nicht gesehen.“ „Gut, es geht mir, gut. Danke“, antwortete die Frau. „Und Don Anselmo schläft?“ „Ja, ja“ „Möchten Sie nicht kurz aussteigen?“ „Nein, danke.“ „Ich begleite Sie gerne.“ „Nein, vielen Dank.“

Der junge Mann entfernte sich. Fast alle Passagiere stiegen aus. Da die wenigen, die im Waggon sitzen blieben, versuchten, ein Gespräch anzubahnen, täuschte die Frau vor, wieder zu schlafen.

Nach vier Stunden ertönte die Pfeife des Zugführers, und die Reisenden beeilten sich, wieder in die Waggons zu steigen. Sie befanden sich bereits in der Provinz Entre Rios, und jetzt erwachte die Frau wirklich. Es bestand keine Gefahr mehr, sie konnten sie fragen, was sie wollten. Jetzt konnte ihr niemand mehr lästig fallen, denn sie war bereits in der Heimat angekommen. In ihrem Dorf, wo alle sie kannten und ihr helfen konnten. Es war die längste und schmerzvollste Reise ihres Lebens gewesen. Die Angst, jemand könnte Verdacht schöpfen oder ihr Geheimnis entlarven, hatte sie gezwungen, fast während der ganzen Reise die Augen geschlossen zu halten. Buenos Aires hatte ihnen beiden die letzten Kräfte geraubt. Mühevoll richtete sie sich in ihrem Sitzplatz auf und sagte: „Helfen Sie mir bitte!“ Einige Personen kamen herbeigelaufen. Eine von ihnen stieß erschüttert einen Schrei aus: „Aber was ist denn mit diesem Mann los!?“ „Ja“, antwortete Felisa, „er ist tot. Er ist gestorben, unmittelbar nachdem er den Zug bestiegen hatte. Deshalb ist er schon kalt.“

„Aber warum haben Sie denn nichts gesagt?“ „Wozu? Damit man uns in Buenos Aires gezwungen hätte auszusteigen? Sie wissen ja nicht, was das heißt.“

Dann sagte sie nichts mehr. Wozu auch? Niemand würde sie verstehen. Wozu sollte sie ihnen erklären, dass sie gewusst hatte, dass ihr Mann auf der Reise sterben könnte. Auch er hatte es gewusst, aber trotzdem wollte er zurückkehren, um in seiner Heimat den ewigen Frieden zu finden.

Deshalb hatten sie an diesem Morgen den Zug der Heimkehr genommen.

Aus dem Spanischen übertragen von Barbara Hausjell