Die vom WilhelminenbergDichter Innenteil

Verschlafen besteige ich die Straßenbahn von der Sandleitengasse Richtung Schottentor, nachdem ich von meinem Freund mit dem Bus den Wilhelminenberg heruntergefahren bin. Schulmädchen sitzen und stehen in mehreren Reihen und sind durch Gespräche verbunden.

Ich habe heute kaum geschlafen, sagt eine mit vollen, schön geformten Lippen und großen hervortretenden Augen, die etwas gelblich unterlaufen sind. Sie ist die einzige, deren Aussehen ein wenig beeinträchtigt scheint.Dennoch spricht sie hochdeutsch und mit einem singenden Akzent wie jedes der anderen Mädchen. Dabei werden die Silben kurz gehalten und mit einer Leichtigkeit hinaufgehoben, die schönen Laute, schneesprühende oder schmelzende wie s, sch und st werden mit Vergnügen von der Zunge zu den Lippen getragen, während die sperrigen wie gr, r oder brr hinten im Gaumen bleiben und fast geschluckt scheinen. Auch gedämpfte Laute wie m, n, w, und l werden sanft eingedreht und vermitteln eine intime Zärtlichkeit wie das Wasser einer Quelle. Man verspürt ein weiches, empfangendes und kein beschwerendes Dasein. (Nichts Langgezogenes, Abwärtsgerichtetes.) Es ist ein Gesang, der von den Mädchen in gleicher Weise intoniert wird, nahtlos von einem Mund in den anderen verlegt werden könnte, ohne dass die Zuhörerin einen Unterschied ausmachen würde. Im feinen Rhythmus bewegen sich die Hände, weisen aufwärts oder setzen sanft auf dem Schoß auf, deuten Dinge an, streichen durch die Luft und würden sich nur einem galanten Liebhaber reichen, der sich auf die Methode der feinen Luftströmungen versteht, der die gepflegten Finger mit dem durchsichtigen Nagellack demütig zu küssen begehrte.

Mache ich mich lustig? Keineswegs, es ist eine zauberhafte Welt, in der die Blicke nicht festsitzen im Inneren oder herausragen aus einem unerträglichen Körper, es sind Blicke, die nicht ins Leere gleiten, weil niemand sie erwidert, sondern frei und beweglich sein können, weil es keine Gefahr gibt. Und doch scheint die Gruppe der Mädchen in ihrer Uniformität der Gestik und des Ausdruckes die anderen Straßenbahnbenutzer auszuschließen. Jene, die aus dem Fenster sehen ins Nichts, jene, die mit der Kraft der Augen den Tag bestehen wollen, jene, die sich perfekt hergerichtet haben und an ihrer Kleidung herumzupfen, jene, die sich in die Zeitung klappen, jene, die den Kindern Kekse und Ratschläge vorhalten und den Kinderwagen heftig wippen, damit das Kind ruhig ist. Jene, deren Silben dem Blick abwärts folgen. Jene, die nur einsilbig leben. Während ich dies denke, geht die Faszination für die Mädchen in eine Irritation über. Wie Bewohner einer fremden Galaxie, die über den gleichen Code verfügen.

Die Gleichheit, denke ich, stammt sie aus der Herkunft, oder ist sie eine der Anpassung an die Gruppe? Ich hatte zwei Aufsätze zu schreiben, sagt die eine, denn ich war schlecht im Krimi-Schreiben. Hat dir deine Mutter geholfen? Nein meine Schwester, sagt sie, und die Stimme ist wie eine Glockenblume, die läutet. Kein Alarm, weil sie schlecht in der Schule wäre. Mädchen sind sie, die im Wohlstand wohnen und in die Bildung hineinerzogen werden, denke ich. Alle tragen langes Haar, einen ebenmäßigen Mund und eine ebensolche Nase. Als ob die Schönheit ein Gut wäre, das sich in ihrem Milieu mitkultivieren würde. Da sitzen sie wie eine Reihe von Zugvögeln, die sich sicher auf einem Ast niederlassen und jederzeit fortfliegen können, wenn sie sich gestört fühlen. Nicht wie die Schüler mit den klebrigen Zungen, die im Rinnsaal an der Tüte schlürfen, während sie den Rucksack zur Schule schleifen, um das Nachmittagsturnen zu überstehen. Die mit einem langgezogenen Heast, Depperter, dem anderen die Kappe vom Kopf schlagen. Die grinsen, wenn jemand weint und die obszöne Gesten mit den Fingern zeigen.

Übertreibe ich angesichts der Ereignisse, die ich als Kind in einem echten Arbeiterbezirk erlebte? Dort wurde man mit langen Vokalen im Hof gerufen, solange, bis man reagierte. Aufwärtsziehende gedehnte Vokale, die die Knechtung bei Nichteinhaltung wie das langgezogene Ohr beinhalteten, während die Mütter abwärtsgewandte kurze Befehle aussprachen und die Tür zuschlugen. Man wurde gestoßen und geboxt, wenn man nicht gehorchte, da diente die Sprache weniger dem Ausdruck als dem Eindrücklichen. Diese Eindrücke trägt man noch später, die bekommt man nicht heraus aus sich, auch wenn wir uns am Hochdeutschen empor gehantelt haben. Unsere Augen bleiben eingesenkt, der Gang schwerer, die Wirbelsäule verbogen, die eine lebenslange Gymnastik erfordert. Die Hand ist verkrampft, drückt fest zu oder liegt schwach in der anderen. Der Wiener Dialekt hört auf, wo der Jargon anfängt, habe ich sagen gehört. Die gut erzogenen Mädchen vom zehnten Bezirk hatten deswegen Eltern, die ihre Handlungen kontrollierten und absicherten. Sie durften das Haus kaum verlassen, damit der Einfluss nicht genommen werden konnte. Dies entsprach der Unsicherheit der Mütter, die im Kleinen das Bürgerliche erzeugen wollten. Oft saß ein abgearbeiteter Vater im Hintergrund und schrie, weil er etwas erreichen und sich behaupten wollte.

Ja, meine Sicht ist veraltet und der zehnte Bezirk hat sich gewandelt. Auch meine Nichten und Neffen unterhalten sich im singenden Hochdeutsch und in charmanter Gestik, während ihre Mutter, meine Schwester, im Dialekt herumnörgelt. Es gibt eben keine Klassen mehr, sagt mein Freund vom Wilhelminenberg, der dem Hochdeutschen den höchsten Rang zuspricht und mich täglich ausbessert.

Brigitte Schmolmüller