Die wahre Amour fou Kraus und die Sprache IDichter Innenteil

Anstiftungen zum Wiederentdecken von Karl Kraus, Teil 2

Ein Geisteskranker, den man nach dem Grunde seines jahrelangen Schweigens fragte, behauptete: Weil ich die deutsche Sprache schonen wollte.

C.G. Jung, aus Der Inhalt der Psychose (1908)

Der Komponist Ernst Krenek erinnert sich: Als man sich gerade über die Beschießung von Shanghai durch die Japaner (1932, Anm. R. S.) erregte und ich Karl Kraus bei einem der berühmten Beistrich-Probleme antraf, sagte er ungefähr: Ich weiß, dass das alles sinnlos ist, wenn das Haus in Brand steht. Aber solange das irgend möglich ist, muss ich das machen, denn hätten die Leute, die dazu verpflichtet sind, immer darauf geachtet, dass die Beistriche am richtigen Platz stehen, so würde Shanghai nicht brennen.

Dass diese Logik schon den meisten seiner Zeitgenossen als nur eines erschien als bizarr , gibt uns, der Nachwelt, noch allemal nicht Recht gegen Kraus. Sollte es mir mit diesem sowie dem nächsten Aufsatz, die beide sich dem Verhältnis des Satirikers zur Sprache widmen, gelingen, im Leser, in der Leserin Zweifel zum Gären zu bringen, ob Karl Kraus Übertreibungen vielleicht doch nicht so übertrieben sind, wie sie anfangs wirken, ob nicht doch falsche Beistriche Shanghais Dächer entzündeten, dann ist schon viel an jener Strecke gewonnen, welche uns vom Verständnis seines Denkens trennt.

Doch gibt es keinen Weg dorthin außer durch den Engpass der Sprachkritik. Und wer Kraus folgend diesen durchschreitet, wird vielleicht die schreckliche Entdeckung machen, dass all das, was er sich bislang an kritischem Bewusstsein gutschrieb, Chimäre ist, da er nie an der Form gearbeitet, sondern stets nur den sprachlichen Bausätzen seines sozialen Umfelds vertraut hat, seiner Szenejargons, Selbsthilfegruppen oder Suhrkamp-Wissenschaftsbüchlein.

Kraus Sprachversessenheit mag heute mehr befremden denn je. In Zeiten, in denen so getan wird, als sei die Gesellschaft ein riesiges basisdemokratisches Selbtsverwirklichungsseminar, wo jede Stimme Widerhall, aber keine Bedeutung hat, erscheint das Bemühen um sprachliche Brillanz für Kraus der einzige Garant geistiger Redlichkeit schlechterdings als Originalitätssucht, elitär, selbstverliebt, sogar oberflächlich, bestenfalls als eine beachtliche Fleißaufgabe. Diese Häme äußert sich in dubiosem Lob wie: Mit Sprache umgehen kann er oder sie ja, als handle es sich bei solch Können um Taschenspielertricks oder aber jene fiese Laune der Natur namens Talent, die sie den seichten Seelen oft genug im Übermaß schenkt, uns aber, die wir doch so viel mehr zu sagen hätten, vorenthält. Doch, kontert Kraus: Der Gedankenlose denkt, man habe nur dann einen Gedanken, wenn man ihn hat und in Worte kleidet. Er versteht nicht, dass in Wahrheit nur der ihn hat, der das Wort hat, in das der Gedanke hineinwächst. Form und Inhalt gehörten zusammen wie Leib und Seele, nicht wie Leib und Kleid. Die Instrumentalisierung von Sprache streift Kleider von der Stange über imaginäre Körper. Es kommt also nicht darauf an, was man sagt, sondern wie man es sagt. Die wahren Agitatoren der Sache, sagt Kraus, sind die, denen die Form wichtiger ist. Und: Wer nichts der Sprache vergibt, vergibt nichts der Sache.

Denn nicht erst Linguisten wussten, dass Sprache Bewusstsein strukturiert. Denken außerhalb der Sprache ist Phantomdenken, vermutlich verhält es sich mit dem Fühlen ebenso. Das ist der Schlüssel zum Verständnis von Karl Kraus, aber auch seiner geistigen Vorgänger wie Oscar Wilde, der schrieb: Erst die Form haucht dem Gedanken Leben ein. Und nicht nur ihm. Form ist das Geheimnis des Lebens. Gib der Trauer Ausdruck, und sie wird dir kostbar werden. Gib der Freude Ausdruck, und dein Entzücken steigert sich. Du möchtest lieben? Sprich die Litanei der Liebe, und ihre Worte werden die Sehnsucht schaffen, aus der sie der Meinung der Welt nach entspringen.

Oscar Wilde schrieb auch: Die schlechtesten Werke werden in guter Absicht geschrieben. Und traf den Nerv, von dem Karl Kraus Zeit seines Lebens nicht mehr runterstieg. Die Gesinnung ist kein Garant für irgendwas. Eine linke, liberale, eine sich aufrichtig wähnende Gesinnung, die sich in Phrasen entlädt, ist sogar ärgerlicher als das rechte Sentiment, weil sie ein kritisches Denken prätendiert, das ihr sprachlicher Ausdruck nicht einhält.

Nicht Beherrschung, sondern Hingabe

Vor Kraus beschränkte sich Sprachkritik auf den Tadel schlechten Stils, den nur versteht, wer das Bemühen um guten Stil als zutiefst humanistisches Streben nach Wahrhaftigkeit erkennt. Hierin folgte Kraus seinen Vorbildern Lichtenberg, Jean Paul, Goethe und Schopenhauer und ging sogar so weit zu behaupten: Dass einer ein Mörder ist, muss nichts gegen seinen Stil beweisen. Aber der Stil kann beweisen, dass er ein Mörder ist. Wer derlei Aphorismen für überspannt hielt, musste wohl erschrecken, als sich fast alle Journalisten und Schriftsteller, deren Sprachbarbareien Kraus jahrelang in der Fackel dokumentiert hatte, bei Ausbruch des I. Weltkriegs geschlossen an die Propagandafront meldeten.

Von seinen sprachkonservativen Vorgängern unterschied sich Kraus dadurch, dass bei ihm Stilkritik zu Ideologiekritik reifte: Das hat Bertolt Brecht gewürdigt und kurz vor ihm Walter Benjamin: Die Phrase in dem von Kraus so unablässig verfolgten Sinne ist das Warenzeichen, das den Gedanken verkehrsfähig macht so wie die Floskel, als Ornament, ihm den Liebhaberwert verleiht. An Art und Ausmaß, wie Menschen die Sprache zurichten, liest er ab, wie sie zugerichtet sind und einander zurichten. An der Verschandelung der Wörter und Sätze, resümierte Max Horkheimer, wird er der Entmenschlichung der Menschen und ihrer Beziehung inne, der Zerstörung des Geistes durch Marktwert und entartete Konkurrenzmethoden. Die Sprache wird ihm zum Beweisstück der gesellschaftlich produzierten Verdummung, welche die Menschen dazu bringt, ohne Widerstand über sich ergehen zu lassen, was die Mächte der Welt aushecken; zum, Beweisstück der Verrohung, die den Sprachleib ergreift, ehe sie in Kriegen, Diktaturen und Konzentrationslagern sich austobt. Als die Katastrophe hereinbrach, bestätigte sie nur, was Kraus der Sprache längst abgehört hatte.

Am deutlichsten tritt Kraus diese Instrumentalisierung in der Phrase der Sprachbeherrschung vor Augen: Ich beherrsche die Sprache nicht, aber die Sprache beherrscht mich vollkommen. Sie ist mir nicht Dienerin meiner Gedanken. Ich lebe in einer Verbindung mit ihr, aus der ich Gedanken empfange, und sie kann mit mir machen, was sie will. Ich pariere ihr aufs Wort. Denn aus dem Wort springt mir der junge Gedanken entgegen und formt rückwirkend die Sprache, die ihn schuf.

Nicht Pedanterie, sondern Präzision

Wegen derlei Allegorik wurde Kraus oft Sprachmystik oder Sprachmetaphysik attestiert. Doch nur zu gut wusste er, dass die Sprache kein unfehlbares Orakel, nicht mit einem Raumschiff auf der Erde gelandet war, sondern Produkt historischer Entwicklung und kommunikativer Konsensbildung. Ihr objektiver Wert bemisst sich bloß danach, was die besten ihrer Dichter und Dichterinnen, ihrer Denker und Denkerinnen in ihr nicht mit ihr geleistet haben.

Ein weiterer Irrtum ist es, dass sich Kraus zum Hohepriester eines sprachlichen Kanons aufgeschwungen hätte. Im Gegenteil ist ihm bürokratische Sprachreglementierung Auswuchs jenes verdinglichenden Ungeistes, dem er die künstlerische Kreativität entgegenhält. Aber nie um den Preis gedanklicher Schärfe. Kraus verteidigt Regelwerk und Logik deutscher Sprache dort, wo sie Urteils- und Differenzierungsvermögen fördern.

Wie konstruktiv seine Destruktivität sein kann, beweist er in vielen Glossen und Aufsätzen des Sammelbandes Die Sprache, wo er sich vom Strafrichter in einen Pädagogen verwandelt und seinen Lesern anhand gängiger journalistischer Stil- und Grammatikfehler einfühlsam erklärt, welchen tieferen Sinn bestimmte Regeln haben. Ein Buch, das Mittelschülern den Deutschlehrer ersetzen könnte, und nicht nur, weil es vermutlich amüsanter ist als dieser.

Im Verhältnis zur Sprache spiegelt sich das zur Welt die es ohne Sprache nicht mehr gibt. Wer die Sprache nicht fürchtet, kann sich ihr unterwerfen, wer in seinem Denken flach und unsicher ist, muss sie sich unterwerfen und verrät seine Schwäche mit Jargon oder exzentrischer Phrase. Doch ungewöhnliche Worte zu gebrauchen, schreibt Karl Kraus, ist eine literarische Unart. Man darf dem Publikum bloß gedankliche Schwierigkeiten in den Weg legen. Das gilt nicht nur für Schriftsteller und Journalisten, sondern viel zu wenig beachtet auch für den so genannten akademischen Diskurs, in dem auch heute noch die Massenvergewaltigungen der Sprache zu den Initiationsriten künftiger Intellektueller gehören.

Wann immer sich ein Autoren-Ego prätentiös zwischen Sache und Form drängt, also deren ideelle Einheit sprengt, sich mit Ornament ziert, aber auch, wenn es das Pathos sachlicher Schlichtheit zur unsichtbaren Zierde verkommen lässt, darf es des gnadenlosen Spottes von Kraus sicher sein.

Nicht Onanie, sondern Liebessex

Wer gerade ihm Narzismus vorwirft, übersieht, vor wem Kraus da sein Pfauenrad schlägt, nicht vor seinem Spiegelbild, sondern vor der Sprache selbst. Sie ist ihm einziger, letzter und erster Ort, an dem sich Individualität noch im geistigen Widerstand gegen die Konformität medial und kulturindustriell verwalteter Gefühls- und Gedankenphantome behaupten kann. Wo Vernunft sich nicht dem Kanalisieren des Sprachflusses, sondern mit Hilfe der Phantasie seinem sinnlichen Fließen hingibt, und somit nie die Alternativen versiegen lässt zu dem verbindlichen Austausch von Eiswürferln, den wir gemeinhin Kommunikation nennen. In der Erotisierung seines Verhältnisses zur Sprache fand Karl Kraus immer wieder das treffende Gegenbild zu deren instrumentellem Gebrauch.

Die Sprache ist eine Herrin der Gedanken, und wer das Verhältnis umzukehren vermag, dem macht sie sich im Hause nützlich, aber sie sperrt ihm den Schoß. Für Kraus ist die Unachtsamkeit gegenüber der Sprache, seiner Mutter, Herrin, Geliebten, unverzeihlich, ihre Schändung ein Kapitalverbrechen, weil sie zugleich die Demütigung eigenständigen Denkens bedeutet, das einzig uns vor unserer Fernsteuerung bewahren kann. Von Rache sprech ich, will die Sprache rächen, an all jenen, die die Sprache sprechen. 36 Jahre störte Kraus die Schänder bei ihrem Geschäft, ließ die bürgerliche Wirklichkeit in die Schlingen ihrer Redensarten treten, und zeigte vor, wie man die Sprache wirklich liebt. Nur wer sich ihr mit Zärtlichkeit und Empathie nähert, dem gebiert sie schöne Kinder. In einem Aphorismus dreht Kraus sogar die Rollen um, bei der Wollust des sprachlichen Schöpfungsakts befruchtet die Sprache ihn, er gebiert den Satz.

Keine Frage, dass sich bald die Psychologen mit ihren Schlagwörtern Ersatzbefriedigung, Sublimation oder gar Onanie meldeten.

Kraus wird Kommunikationsverweigerung unterstellt, weil ihm Sprache nicht vorrangig Mitteilung, sondern Selbstzweck sei. Während sich der normale Mensch mit anderen austausche, wichse er mit ihr bloß. In Wirklichkeit verhält es sich genau umgekehrt. Da ihm Sprache eben kein Mittel ist, masturbiert Kraus nicht mit ihr, sondern befriedigt sie, und das sehr oft hintereinander. Während wir es ihr in der Illusion freien Austausches bloß besorgen.

Von wegen Wichsen: Kommunikation dient zumeist der wechselseitigen Bestätigung, Inhalte sind beliebig. Bevor wir kommunizieren, sollten wir uns im Liebesakt mit dem Gedanken, dessen Form und Inhalt Sprache ist, desinfizieren, damit wir andere nicht mit der geistigen Geschlechtskrankheit der Phrase anstecken. Das kostet viel Anstrengung und Schweiß. Das Mindeste an Achtung indes, was wir unseren Mitmenschen schulden.

Wer so könnte man Kraussche Ethik weiterführen einem Menschen so viel Respekt und Leidenschaft entgegenbringt wie Kraus der Sprache, kann kein schlechter Liebhaber, keine schlechte Liebhaberin sein.

Richard Schuberth

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