Früher war alles besser!Dichter Innenteil

Was meine Oma aus dem Jahr 2027 zu berichten weiß

Aus den privaten Aufzeichnungen

von Danuta Pichler, 16 Jahre, 5. Oktober 2067



Meine Oma nörgelt immer an mir herum. Das kann ganz schön nerven. Aber wenn man bedenkt, dass sie die Einzige ist, die sich in unserer Familie über mich Gedanken macht, schätze ich ihre Kritik. Sie erzählt die bizarrsten Geschichten aus jener verrückten Periode, die man die Roaring Twenties des 21. Jahrhunderts nennt.Die Oma sie nimmt sich kein Blatt vor den Mund, ich sehe sie auf der Veranda ihrer Datscha sitzen, von ihrer Spinatzigarre paffen und laut fluchend ihre Krücke den Schwebemobilen der jungen Rowdies nachwerfen, die wieder mal zu laut um den Block geflitzt sind. In ihrem bauchnabelfreien Batikdirndl sitzt sie dort, ihr braun gebrannter Lederbauch sieht aus wie zerknittertes Pergament. Meine Eltern haben deshalb sogar den Kontakt mit ihr abgebrochen nun, in Würde altern hat sie jedenfalls nie gelernt, die Oma. Diese Bauchfreimode aus den 20er Jahren ist wirklich das Letzte, nie und nimmer würde ich meinen Bauch herzeigen, eher schon meine Brüste. Die können si a sehen lossen, Danutika, kichert sie und zwickt mich in den Busen, worauf ich immer knallrot im Gesicht werde. Meine Oma ist die schamloseste Person der Welt, und mehr von der Welt als St. Pölten hab ich noch nicht gesehen, aber ich liebe sie heiß und innig die Oma meine ich, nicht St. Pölten.

Letztens hat sie mir Karten für eines dieser erbärmlichen Swip-Swop-Konzerte gekauft, bei denen sie ihre Jugend abtanzte. Da stand ich mit ihr und tausend anderen Geriatrics in der Arena, in der Billy Pröll (der Sohn des seligen Joseph Pröll) 2017 den gesamten Landtag hatte ermorden lassen, und schaute den Alten beim Ausflippen zu. Diese völlig indiskutablen Swip-Swop-Bands kommen zumeist aus der Freien Republik Mühl- und Waldviertel, wo sie für einen Hungerlohn auftreten, und kriegen bei uns Mördergagen, die sie nicht versteuern müssen. Der ganze Staat ist ein Witz, auch ihre gefälschte Urkunde, der zufolge das Herzogtum Wald- und Mühlviertel schon 987 bestanden haben soll! In die Säureminen von Unterolberndorf mit ihnen! Aber gegen die traut sich ja doch niemand vorgehen, weil sie die Q-Bombe haben.

Oma geht mir mit ihrem Swip-Swop jedenfalls mächtig auf die Nerven. Na, dann hör halt deinen kitschigen Koreanerpop!, zischt sie zwischen ihren dünnen Lippen hervor und spuckt auf den Boden. Ja, koreanischer Pop, wie ich ihn liebe: Kwan Kam Uk und Son Hor Do, Nancy Kwe und am liebsten hab ich natürlich Kim Ku-Jäk, der nächstes Jahr nach St. Pölten kommt und mit seiner neuen Frisur noch viel besser aussieht, der ist soooooo süß!

Oma und ihre Generation hatten Swip-Swop, sie tanzten Harehead, Jingy-Bingy-Kolo, den Kalanikow-Twist, den Piri-Piri und führten sich wie betrunkene Waldviertler auf, dieses Lebensgefühl nannten sie Mjörken. Niemand weiß, woher der Ausdruck kommt. Wir Jungen hingegen haben unsere eigenen Moden: Shirazzo, Twag, Drazz, wir trinken Yürük Blü und blödeln in einer eigenen aus Stuttgart kommenden Szenesprache namens Znöögg, bei der alle Vokale in Zwie- und Umlaute verwandelt werden. Über Sätze wie Güb mür zwünzig Gülden ör i schlöck dön Böstönhöltör raunter (der Zwielaut im letzten Wort ist immer wichtig) können wir, wenn wir auch schon ein paar Yürük Blü im Bluzza haben, stundenlang lachen.

Die alten niederösterreichischen Volkslieder werden eigentlich nur noch im Alevitischen Zentrum gepflegt. Weil die Türken dort so traditionsbewusst sind, kümmern sie sich nicht nur um die eigenen Traditionen, sondern, stellvertretend für uns, gleich um die unseren. Sie kriegen dafür sehr viel Geld von der Landesregierung.

Die letzten exotischen Liebhaber

Oma hat noch immer diesen Tick für alles Russische und Sibirische, der in den 20er Jahren besonders grassierte und der mir einen Großvater aus dem Ural bescherte, einen versoffenen Posaunisten aus einer Ska-Band, der, nachdem er Omas Bergbauernzuschuss und Kinderbeihilfe verprasst hatte, sich wieder in den Osten absetzte. Ihre Russophilie gab sie nie auf, deshalb heißt meine Mutter Jewgenija, und dass ich Danuta heiße, beweist, dass sich mein Vater, der Pichler (Besitzer einer Werkstätte für Schwebemobile) gegen die Oma nie durchsetzen konnte. Sie selbst wurde übrigens auf den um 2010 in ländlichen und halbstädtischen Kreisen noch immer beliebten Namen Shakira getauft, Shakira Hochholdinger.

Wenn Oma ihre Russen-Reggae-Chansons trällert und ihren Samojeden-Neo-Punk krächzt, dann macht sie das mit diesem eingeschworenen Lächeln, das uns sagen soll: Was wisst ihr denn schon von der Trauer und Freude, die ich mit den Liedern verbinde. Was wisst ihr denn schon von meiner wilden Jugend? In den 30er Jahren wanderte ihre Russophilie noch weiter ostwärts in die neu ausgerufene Republik Transkamtschatkien, und es wurden ihr massenhaft Affären mit tschucktschischen, eskimoischen, kwakiutlartigen und samojedischen Wanderarbeitern nachgesagt. De Tirken, Zulu und Illyrer kenn i scho inwendig, kichert die Oma, oba de Transkamtschatkier san de letzten exotischen Liebhoba, außa de Woidviertler vielleicht. Oba glaubst, mia graust vor goa nix?

Wo sie Recht hat, da hat sie Recht, die Oma.

Was die Oma zu frivol ist, das sind die Mama und der Pichler zu bigott. Diese neue Verklemmt- und Gottergebenheit erklärt Oma mit den Schicksalsschlägen, welche die Jugend ab den 30er Jahren, nach ihren goldenen 20ern also, zu erleiden hatte: der Untergang der USA, zwei europäische Kreuzzüge in den Orient, Inflation und Geldentwertung, dann nicht zu vergessen drei Generationen Pröll-Diktatur (Papa-Pröll, Baby Pröll und der schlimmste von allen Timur Pröll mit seiner grausamen Uigurengarde), weiters der Dinkelkäfer, die große Hungersnot von 2047, die Ausbreitung der Hundsgemeinen Kondommorchel All das trübte die Lebenslust der Elterngeneration und trieb sie in die Hände von Kongregationen und Orden, die in den 40er Jahren wie die Agaven aus unserem Heimatboden sprossen: die Diskonter Gottes, die Wiedersäufer, die Antioxitanten der Liebe, die Fidelen Sonntagsberg-Sufis und am bizarrsten Peters Gnädige Jungfrauen, ein Nonnenorden, der sich ganz dem Andenken des Heiligen Peter Rapp widmete, jenes abgetakelten und posthum heilig gesprochenen Entertainers, der bei einem sturmumtosten Weinviertler Zeltfest im Jahr 2015 fünf Busladungen voll Ursulininnen das Leben rettete, indem er aufgrund des Drahtmaschengewebes seines Toupets einen tödlichen Blitz auf sich lenkte. Um ihre Liebe zu ihrem Idol zu verewigen, tragen Peters Gnädige Jungfrauen teils künstliche, teils aber auch echte Peter-Rapp-Bärte.

Mauthausen, Woodstock blablabla

Fünfmal wollten meine Eltern die Oma schon entmündigen lassen, doch sie ist einfach zu mächtig. Geradezu unantastbar. Alles darf sie sich erlauben. Schließlich hat sie den Amaranth bei uns eingeführt und die Yakzucht. Und während der Inflationen durch geistesgegenwärtig-schnelles Etablieren von Tauschringen tausenden Menschen das Leben gerettet. In Michelbach hat sie mit eigenen Händen aus dem Schutt des von den Persern bombardierten Lagerhauses ein Kulturzentrum aufgebaut, in dem sie Konzerte, Lesungen ja sogar wissenschaftliche Symposien veranstaltete. Das legendärste war wohl jenes, als sie die namhaftesten Intellektuellen des Yetivolkes zu dem Thema Reinhold Messner Wirklichkeit oder Mythos an einem Tisch vereinte. Dass sie sich den Bestaussehenden als Lover nahm, brauche ich wohl nicht extra erwähnen. Ihre größte Leistung aber war die Beendigung des Zweiten Kreuzzugs.

Als dieser immer grausamer wurde und ein Ende immer weniger abzusehen war, kratzte sie kurz entschlossen all ihr Erspartes zusammen, nahm ein Schwebetaxi nach Teheran, trat dort mutterseelenallein, nur mit einer Peitsche aus Waldviertler Feuersalamanderleder bewaffnet, zwischen die kämpfenden Parteien und verprügelte beide, dass ihnen, so sie überlebt haben, jetzt noch der Hintern am Jahrestag dieses denkwürdigen Ereignisses blau anschwillt

Im Herbst beginne ich in Koice, unserer Hauptstadt, mit der Hotelfachschule. Bloß der Gedanke, bei der Oma nicht jeden Tag auf einen Bilsenkrautsamentee vorbeischauen zu können, zerreißt mir das Herz. Aber sie hat mir versprochen zu schreiben. Gott sei Dank bin ich aus dem Gymnasium raus. Algebra und der langweilige Deutschunterricht bei dem fischgesichtigen Magister Moser mit seiner weibisch-weichen, fischigen Art. Und ständig diese blöden Uraltgedichte: Wolfgang Amadeus Goethe, Reinhard Mey, Edward Mörike, Falco und wie diese Uropas auch alle heißen mögen. Das 20. Jahrhundert mit seiner Nazischeiße war überhaupt der Tiefpunkt der Geschichte; Mauthausen, Woodstock blablabla Oma sagt, dass könne man nicht so verallgemeinern, und hat vermutlich Recht damit. Aber was kümmert ’s mich? Ich lebe jetzt, so wie Oma ihr schönes 2027 hatte.

Vergilbte Fotos vom Jungbäuerinnenkalender

Ich bewundere die Oma abgöttisch. Nur ihr ständiges Quatschen über Sex ist mir peinlich. Ich weiß schon, sie will mich dem Einfluss der Eltern entziehen, aber muss sie immer so übertreiben? Dann zeigt sie mir die vergilbten Fotos vom Jungbäuerinnenkalender aus dem 28er-Jahr, wo sie nackt auf einem Yak Rodeo reitet. Zugegeben, sie war eine wunderschöne Frau und hat sich immer genommen, was sie wollte; aber so sehr ich die Körperfeindlichkeit von Mama und dem Pichler ablehne, schockiert mich ihre übertriebene Lockerheit in diesen Dingen. Meine Eltern, spottet die Oma und prustet dabei immer vor Lachen den selbst gebrannten Agavenschnaps aus, würden ihre Geschlechtsteile (dabei verwendet sie ganz eklige russische Ausdrücke) nur zum Soachen verwenden, und nicht einmal dabei würde der Pichler treffen. Oma ist felsenfest überzeugt davon, dass sich meine Eltern seit 20 Jahren nicht geküsst haben, früher am Anfang, beim Feuerwehrball hätten sie es getan, aber nie aus innerem Antrieb, sondern nur, weil die Leut zugschaut ham.

Ich bin sehr schamhaft, aber eines ist mir klar: Ich und der Mann meines Lebens werden unsere Kinder auf natürliche Weise zeugen, nicht so wie die Mama, die tief gekühltes Pichlersperma mit der Sonde … Das steht fest. Diese Generation ist einfach krank! Oma lacht mich aus, weil ich mich mit dieser Ansicht für rebellisch halte.

Nun, es gibt schon einen Süßen, und gestern habe ich mich der Oma anvertraut. Er heißt Ali, wir treffen uns schon seit eineinhalb Jahren im Alevitischen Zentrum und musizieren gemeinsam, uralte niederösterreichische Volkslieder, er auf der Saz, ich auf der Steirischen; Lieder vom Pielachtal-Echo und den Sitzenthaler Sitzenbleibern. Schatzl, Schatzl, für di allein, lass i sogoa dös Angeln sein ist unser Lieblingslied. Ich spüre eine tiefe, sehr tiefe Verbundenheit mit Ali, und die ist ich muss es zugeben nicht nur seelischer Natur. Der Feigling traut sich einfach nicht, was ich auch sehr süß und nobel finde, aber ich fahre im September schon nach Koice, und wenn es diesen Sommer nicht passiert, dann passiert es nie, oder ein anderer wird sich meinen Schatz nehmen, und ich werde ihn mir nehmen lassen, traurig, dass der blöde Ali, der es wahrscheinlich auch will, so unsicher ist. Worauf ich jedoch Gift nehmen kann: dass ich in diesen Dingen in meiner verrückten Oma immer eine treue Verbündete und Beraterin haben werde.