HausDichter Innenteil

Der Zement war bröckelig. So bröckelig, dass der Boden ständig groben Staub absonderte, der unter den Füßen knirschte, sich im Profil der Schuhsohlen verfing, Socken verschmutzte und Seidenstrümpfe aufriss, sodass sie unschöne Laufmaschen zogen.

Illu: Karl Berger

Auf diesem Boden konnte er seinen kleinen Sohn nicht spielen lassen, der nahm noch alles in den Mund – seine staubigen Fingerchen, wenn er auf dem Boden gekrochen war, und seine verdreckten Spielklötze, die er zuvor im Zimmer verteilt hatte. Peinlich auch, wenn seine zahllosen Gäste das Knirschen unter ihren Füßen bemerkten, die Schuhe hoben, die graustaubigen Sohlen inspizierten und je nach Charakter unangenehm berührt wegsahen, ihn mit fragendem Blick streiften oder ihn mit lauter Stimme fragten, wann hier zum letzten Mal geputzt worden sei oder wie er sonst diesen Dreck auf seinem Boden erkläre. Was er noch hasste: Wenn seine vierzehnjährige Tochter mit ihren DocMartens auf dem Boden herumtrampelte, ihn angrinste und fragte, wie es kam, dass er als Karateka und Zen-Fan wegen ein bisschen Sand auf dem Fußboden so uncool wurde.

Er konnte es ihr nicht erklären, und das Fatale war, dass niemand es erklären konnte. Der Architekt nicht, der Baumeister nicht und auch der Steinspezialist, den er nach Monaten der fruchtlosen Diskussionen mit Architekt und Baumeister hinzugezogen hatte, nicht. Im Abstand von rund vier Wochen trafen sie alle drei in seinem Haus ein, starrten auf den Boden, stampften mit den Füßen darauf herum, fuhren mit den Handflächen über den Beton, entnahmen Stein- und Staubproben, grübelten, wiegten die Köpfe, ließen ab und zu ein Wort fallen, legten sich nicht fest, übernahmen keine Verantwortung. Nichts hätte er sich aber mehr gewünscht als Klarheit. Nichts wollte er mehr als endlich jemanden zur Verantwortung ziehen zu können für das Elend mit seinem Haus, auf das er so stolz hatte sein wollen.

Er hatte das Haus bei einem der ersten Architekten der Stadt in Auftrag gegeben, ein Betonhaus hatte es sein sollen, mit viel Glas, auf seinem Grundstück in einer der besten Gegenden am Stadtrand, hoch gelegen, von Bäumen und Grün umgeben, mit einem als außergewöhnlich zu bezeichnenden Ausblick auf die darunter liegende Stadt. Von außen betrachtet war es genau das geworden, wovon er geträumt hatte, ein Prestigeobjekt von moderner Schönheit, dem Zeitgeist entsprechend und doch auch mit dem gewissen klassischen Hauch, der an dem Entwurf keine Jahreszahl abzulesen ermöglichte. Ein Haus, um das ihn seine Freunde und Kollegen beneideten, ein Haus, vor dem vorbeigehende Spaziergänger stehen blieben, ein Haus, mit dem sein Lebensgefühl seinen Ausdruck fand, ein Haus, von dem man sprach.

Es gab nicht wenige Kollegen, die ihm sein Pech gönnten

Und man sprach von dem Haus. Seine Freunde bemitleideten ihn für das unerhörte Pech mit dem Beton, das Mitgefühl seiner Kollegen hielt sich in Grenzen, und es gab nicht wenige von ihnen, die ihm sein Pech gönnten. Mit dem Spott war schwer zu leben, aber schwerer noch mit dem Mitleid. Beides empfand er als persönlichen Affront gegen sich und seine Geschichte. Schließlich hatte er alles unternommen, um seine Vergangenheit vergessen zu machen, und bis jetzt war es ihm auf geradezu perfekt zu nennende Weise gelungen. Niemand hätte seinem Benehmen und seinen Anschauungen entnehmen können, woher er eigentlich stammte, die Dinge, mit denen er sich umgab, waren von ausgesuchtem Stil, die in nichts den ehemals Mittellosen verrieten, die Menschen, mit denen er verkehrte, waren weder rechts noch links, sondern einfach wohlhabend. So wie er. Was er besaß, war einzigartig, unverwechselbar, und genau das hatte er gebraucht. Immer schon gebraucht, eigentlich schon gebraucht, als er noch in einer popeligen Dreizimmerneubauwohnung gelebt hatte, aus miesestem Baumaterial, mit dünnen Wänden, hässlichen Linoleumböden, zugigen Fenstern, und all das dazu noch von äußerster Fragilität. Ein stärkerer Wind konnte ein solches Haus umpusten, zum Einstürzen bringen, bröckeln lassen, hatte er immer gedacht, und das alles war ihm schon seit seiner Kindheit zuwider gewesen, es hatte ihn angewidert, wenn er an den Toiletten am Gang vorbeigegangen war und die Spülgeräusche herausgehört hatte, und er hatte es gehasst, wenn er im Winter regelmäßig in den Keller gehen hatte müssen, um Brennmaterial für den Ofen zu holen, der sich ohnehin schlecht beheizen ließ, rauchte und stank. Seine Mutter hatte manchmal gesagt, sie verstehe nicht, woher sein Bedürfnis nach Perfektion und Luxus kam, ihr war es egal, wenn Dielen und Fenster kaputt waren, wenn ihr Sommerurlaub sie nur in ein hässliches Quartier in Bulgarien führte, wenn das Essen immer gleich schmeckte und auch sonst alles immer gleich war. Ihm aber war das nicht egal, und je älter er wurde, desto mehr störte es ihn.

Pakete aus dem goldenem Westen …

Was dem Leben damals Zucker gab, waren die Pakete vom Vater. Aus dem goldenen Westen schickte er feine Pasteten, Oliven, Artischocken, dazu Seidenstrümpfe für die Mutter und T-Shirts für ihn, mit Aufdrucken, um die ihn oft alle anderen beneideten, nicht immer, denn der Vater griff manchmal daneben und schickte etwas, das ihm mehr peinlich als sonst etwas war, und dann fühlte er sich auch immer wieder bestätigt in seiner Ansicht über den «Erzeuger», der die Mutter stehen gelassen hatte, ohne ein Wort der Erklärung oder des Abschieds auf einmal nicht mehr da gewesen war, stattdessen nur mehr alle drei, vier Monate Pakete schickte, mit nichtssagenden Grüßen dazu. Alles, was sie wussten und den Briefchen und vor allem den Paketen entnehmen konnten, war, dass er eine gute Karriere gemacht haben musste dort drüben, er hatte jetzt sein eigenes, kleines Unternehmen und fuhr einen dicken Mercedes mit allem Schickschnack, hatte eine neue Frau und auch neue Kinder.

Was ihn betraf, so malte er sich das Land dort drüben und das ganze Leben, das sie hatten, so fein und luxuriös aus wie ihr Essen, aber es war nicht nur wegen dieser Pakete, dass er vom Westen zu träumen begann. In seinen Dankesbriefen an den Vater begann er nun verschlüsselte Fragen zu formulieren, die darauf hinausliefen, in Erfahrung zu bringen, ob er kommen könnte und Unterstützung finden würde, und aus den Antwortschreiben meinte er herauslesen zu können, dass er willkommen wäre. Genaueres brauchte er nicht zu wissen, sein Entschluss stand damit fest, es war nur mehr eine Frage der Zeit, bis er alles vorbereitet hatte. Der Mutter sagte er es erst im letzten Augenblick, dann, als er schon ging, es tat ihm weh, sie zurückzulassen, aber er wusste, sie würde niemals mitkommen, und sie blieb nicht allein.

Per Autostopp fuhr er nach Wien, wo sein Vater jetzt lebte. Das erste Zusammentreffen mit ihm empfand er als beklemmend. Der Mann, der in der Tür stand, war ihm fremd, trotzdem hatte er nicht nur ein Bett, sondern sogar ein ganzes Zimmer für ihn, er sagte ihm, er solle sich zunächst einmal umsehen, sich vergnügen, später werde man sehen, was er tun könnte. Ihm war es zu wenig, sich nur umzusehen, er wollte sofort in dieser neuen Welt mitspielen, an allen Fronten, und auch bei der Arbeit. Der Vater hatte einen kleinen Autohandel, seine Maschinenbaulehre kam ihm da zugute, er konnte also sofort beim Vater anfangen, das tat er auch.

Sofort schrieb er sich auch in einen Karatekurs ein, schon daheim hatten ihn die Bilder und Geschichten über chinesische Mönche, die keine Waffen tragen durften, ihr Weg der leeren Hand fasziniert, und er hatte schnell begriffen, dass es bei all dem nicht darum ging, Bretter oder Steine mit den bloßen Händen oder dem Kopf zu zerschlagen, und die oft absurd anmutenden Spruchweisheiten der alten Meister hatten ihn fasziniert. Immer schon hatte er gedacht, dass so ein Weg der richtige für ihn wäre, jetzt konnte er ihn gehen.

Studium in Rekordzeit

Neben der Arbeit wollte er studieren, an der Wirtschaftsuniversität, sobald das Semester begann, schrieb er sich als Werkstudent ein, besuchte so viele Vorlesungen und praktische Übungen, wie er konnte, stürzte sich in das Lernen, absolvierte sein Studium in Rekordzeit, danach gab es keine interessantere Branche für ihn als die der Werbung. Er begann in einer mittelgroßen Agentur zu arbeiten, der durch und durch kapitalistische Geist dieser Tätigkeit gefiel ihm, er genoss die straffe Organisation, die über dem vordergründigen Chaos lag, am schönsten für ihn war, dass er zum ersten Mal in seinem Leben leistungsabhängig entlohnt wurde.

Seine Ostvergangenheit streifte er ab wie eine Schlangenhaut. Die Gegebenheiten des Lebens im Westen waren ihm so natürlich, als hätte er sie immer gelebt, er dachte selten an drüben zurück, und wenn, dann niemals mit Sentimentalität. Es dauerte nicht lange, bis er seine eigene Agentur hatte, bald beschäftigte er ein gutes Dutzend Angestellte, dazu noch einige freie Mitarbeiter.

Als bröckle sein ureigenstes Lebensfundament unter ihm

Er legte sich einen schwarzen Volvo, Luxusausstattung, zu, hörte auf, Alkohol zu trinken und ernährte sich bewusst gesund, heiratete eine Frau aus bestem Haus, zeugte eine Tochter und viel später auch noch einen Sohn mit ihr, in seiner Freizeit spielte er Golf und trainierte weiter Karate, er nannte Menschen aus der besten Gesellschaft seine Freunde, leistete sich die luxuriösesten Urlaube, seine Frau war schön, seine Tochter wurde es soeben, mit dem Kleinen hatte er neues Glück ins Dasein geholt. Er hätte sich sein Leben nicht schöner ausmalen können, es war wie im Märchen, alles war glatt gegangen, jetzt aber bröckelte der Zement, und er hatte das Gefühl, als bröckele sein ureigenstes Lebensfundament unter ihm.

Der Zement bröckelte, und keiner wusste warum, er schlug sich gegen die Stirn und begann im Kreis zu laufen, er vermeinte, das Gebröckel durch seine Schuhe hindurchgehen zu spüren, über seine Füße und Beine den Körper hinauf bis zu seinem Herzen, wie Sand in einem Getriebe, und war nicht längst Sand in seinem Getriebe? Erschöpft sank er in die weiße Rolf Benz Lederliege, nahm die Fernbedienung der Stereoanlage an sich, setzte die Kopfhörer auf und schaltete eine Beethoven-Symphonie ein.

Jetzt brannte der Boden unter seinen Füßen

Was wäre, wenn er alles liegen und stehen lassen würde, noch einmal aufbrechen, alles hinter sich lassen, nach Amerika fahren, ein neues Haus bauen, alles noch perfekter machen, als er es bisher getan hatte. Einmal hatte er es ja schon geschafft, warum nicht ein zweites Mal, seine Füße scharrten auf dem Boden, sofort spürte er wieder den Sand, es funktionierte nicht mehr, er konnte sich nicht mehr wegblenden aus seiner Umgebung, so wie er es früher gekonnt hatte, damals, als er noch im echten Dreck gesessen war, jetzt brannte der Boden unter seine Füßen, die Streicher der Beethoven-Symphonie schienen dieses Brennen zu untermalen, nun auch noch die Tschinellen, die Posaunen, die Schlagwerke, der ganze Beethoven trommelte es hinaus, dass er ein Versager war, der es nicht geschafft hatte, einer aus dem Osten eben, einer, der es nicht schaffen konnte, einer, der an einem verdammten Steinboden scheiterte.

Er riss sich die Kopfhörer herunter, sein Blick fiel auf die Sammlung mit Zen-Weisheiten auf dem Tischchen neben der Liege, er nahm das Buch auf. «Nur die Härtesten werden Steine», las er, daneben konnte er die unausgereifte Schrift seiner Tochter erkennen: «Sie gießen Wahnsinn in Beton und Unrecht in Gesetze.» Er ging zur Bar und mixte sich einen dreifachen Whisky Sour.