Karl Kraus und der Nationalsozialismus IDichter Innenteil

Anstiftungen zum Wiederentdecken von Karl Kraus, Teil 24

Er wollte seine Ruhe haben, er wollte sein Leben weiter leben, er war feig schon vom Habitus her.

Bruno Kreisky über Karl Kraus

Wann erscheint endlich ? Warum erscheint nicht ? Warum schweigt er, wo doch gerade jetzt ? Er, der doch bekanntlich im Weltkrieg . Die einen geben die Hoffnung nicht auf; die andern stutzen und fangen an, ein Mutproblem zu erörtern; die sich lange genug der danklosen Mühsal des Verehrertums (mitunter glühend) unterworfen haben, benützen die Chance der Frechheit: Wanzen, die richtig vermuten, dass wegen größerer Gefahr nicht Licht gemacht wird.

Karl Kraus

Das Entsetzliche, das Karl Kraus insbesondere seinen Landsleuten antat: Er beschrieb das Naziregime als jene Schreckensherrschaft, die es tatsächlich war. Das Unverzeihliche: Er schrieb darüber bereits 1933. Das Unfassbare: Dem, was er damals schrieb, ist nichts hinzuzufügen ()

Michael Scharang

Wenn wir anfangen, das Folterverbot zu relativieren, warnte 2003 der deutsche Innenminister Otto Schily, landen wir im Mittelalter. Doch warum so weit in deutsche Vergangenheit schweifen, wo doch der wahre Schrecken so nah ist? Karl Kraus über die öffentliche Misshandlung von Judenliebchen in den ersten Monaten von Hitlers Herrschaft: Und nun geschah, was allen Vergleich mit einem deutschen Mittelalter zur Lästerung macht. Ein Hexengeifer von Sexualhass und Erpressung war zwischen Nürnberg, Ingolstadt, Mannheim, Worms und Kassel losgebunden und aus dem journalistischen Dreck erstand täglich der Pranger der rehabilitierten Rasse und der besudelten Natur. Bereits 1933 erkannte Kraus, was sonst niemand erkennen wollte, dass die Zivilisation, die mit den Nazis angeblich in die Barbarei zurückfiel, nur jene ihr innewohnende Barbarei entfesselte, gegen welche sich vergangene Barbareien als geradezu zivilisiert ausnahmen.

Rings nichts als Stupor, Gebanntsein von dem betörenden Zauber der Idee, keine zu haben. Von der Stoßkraft, die den geraden Weg nahm von keinem Ausgang zu keinem Ziel. Von der Eingebung eines Vierjahrtausendplans, dass das menschliche Paradies gleich hinter der Hölle des Nebenmenschen anfängt und alles Leid dunkler Ordnung, mit Begriffen wie Transfer und Rediskont, sein Ende hat in einem illuminierten Chaos; in dem chiliastischen Traum entfesselter Millennarier: Gleichzeitigkeit von Elektrotechnik und Mythos, Atomzertrümmerung und Scheiterhaufen, von allem, was es schon und nicht mehr gibt!

Obwohl Kraus seit Anfang der 20er Jahre vor dem Gezücht von Hakenkreuzottern gewarnt und bereits 1919 befürchtet hatte, dass ein eiserner Hindenburg noch nach fünfzig gemästeten Friedensjahren von solchen benagelt werde, die unter Umständen auch wieder mit Flammenwerfern zu hantieren verstehen, traf ihn die Machtergreifung Hitlers nach dem Zeugnis Heinrich Fischers mit der Wucht eines übermächtigen Elementargeschehens.

Und so tat Kraus, was er schon bei Ausbruch des I. Weltkriegs getan hatte: Er entzog sich der Kakophonie lauter Parolen und vorschneller Meinungen und recherchierte und reflektierte unermüdlich. Zeit seiner letzten drei Lebensjahre würde eine Öffentlichkeit, die ihm Indifferenz, Feigheit und Faschismus vorwarf, nicht ahnen, dass er Frühling und Sommer 33 nichts anderes getan hatte als an einer 400-seitigen Fackel-Ausgabe mit dem Titel Dritte Walpurgisnacht zu arbeiten, der ersten profunden Kritik des Nationalsozialismus, denen die Faschismusanalysen der kommenden Jahre, wie Friedrich Dürrenmatt meinte, nur noch Quantitatives beifügen konnten. Das Heft war größtenteils schon gesetzt, als sich Karl Kraus entschied, es zurückzuziehen.

Die Dritte Walpurgisnacht, welche 1952 posthum als Buch erschien, beginnt mit jenen berüchtigten Worten Mir fällt zu Hitler nichts ein , deren Zitat vor allem der böswilligen Unterschlagung dessen dienen sollte, was dem Satz folgte, und zwar der scharfsinnigen Erörterung, warum es gegenüber dem Phänomen der Gewalt keine Polemik geben kann und vor dem des Irrsinns keine Satire sowie mehr Einfällen zu Hitler, seinen Schergen, Mitläufern und schwachbrüstigen Gegnern, als irgendeinem seiner Zeitgenossen einfielen.

Romantik der Menschenschändung

Warum aber verhinderte Kraus im letzten Augenblick die Publikation dieses Meisterwerks?

Zunächst aus moralischen Skrupeln. Der Text enthielte, wie er seinem Freund Heinrich Fischer anvertraute, eine Darstellung der Mentalität des Propagandaministers. Es kann geschehen, dass dieser, wenn er meine Sätze vor die Augen bekommt, aus Wut fünfzig Juden von Königsberg in die Stehsärge eines Konzentrationslagers bringen lässt. Wie könnte ich das verantworten? Dass solch eine Begründung auch heute noch Skepsis hervorruft, ist nur Reflex der nachhaltigen Bagatellisierung des Nazi-Regimes, dessen wahren verbrecherischen Charakter man bis Auschwitz ja nicht hätte ahnen können. Doch so viel Ehre Karl Kraus prophetischer Sensibilität gebührt, ihre Würdigung kompensiert den banalen Umstand, dass er bloß Augen und Ohren nicht verschlossen hat und wusste, was jeder hätte wissen können: dass Mord, Folter, Konzentrationslager, rassische Diskriminierung, offene Androhung von Krieg, Genozid und Euthanasie dem Nationalsozialismus von Anfang an wesenseigen waren. Kraus penible Dokumentation des Grauens stammt aus den ersten Monaten des Hitlerregimes und hätte, wäre sie publiziert worden, jegliches Appeasement der Illusionen beraubt. Wenn Hannah Arendt 1943 einbekannte: Und dann haben wir es ein halbes Jahr später doch geglaubt, weil es uns bewiesen wurde. Das ist der eigentliche Schock gewesen so zeigt dies die lebensnotwendige Verdrängungsleistung vieler Intellektueller, zu der Karl Kraus nicht fähig war. An allen gesellschaftspolitischen Lagern diagnostizierte er die Ignoranz gegenüber dem wahren Ausmaß der bevorstehenden Katastrophe. Die sozialdemokratische Fehleinschätzung von und Mitschuld an Hitler war bekanntlich Hauptthema seiner Publikationen der 30er Jahre gewesen. Die radikale Linke indes, selbst militarisiert und hierarchisch gegliedert, gab sich pragmatisch, sachlich und unbeeindruckt von einer Art Gegen-Gang, in der sie nur eine, wenngleich am besten organisierte Spielart verschiedener völkischer Faschismen sah, mittels derer sich das Kapital vor der kommunistischen Revolution zu retten versuchte. Und das liberale Bürgertum befand sich in einer Art Lähmungszustand, den es mit Überlegenheitsironie oder positivem Denken überspielte, der Hoffnung etwa, man könnte Hitler und seine Stoßtrupps mit dem Eid auf die deutsche Verfassung auf demokratische Werte und zivile Umgangsformen einschwören, eine Hoffnung, für die Kraus nur Spott übrig hatte: ohne Zweifel würde der Staatsanwalt an dem ersten Tag, den das dritte Reich besteht, dessen Gründer wegen Verfassungsbruch hoppnehmen.

Gewiss, unglaubhaft ist dies alles der Welt, weil sie einer deutschen Zone, deren Entfesselung wohl die primitive Gewalttat vorstellbar macht, diese erfinderische Phantasie, diesen Reichtum an immer neuen Formen der Quälerei und Erniedrigung, diese Romantik der Menschenschändung so lange nicht zutraut bis sie es erlebt und erduldet. Und könnte sie denn ihr Tagwerk verrichten, ihren Schlaf finden, wenn sie sich vergegenwärtigte, dass diese Dinge just in dem Augenblick der Vorstellung geschehen, immer weiter geschehen, dass Menschen liegen und nicht schlafen, bis sie geschlagen werden und die Schläge zählen müssen, und dass es in Pein und Erwartung der Pein, im Grausamen ohne Sinn und Aussicht, Möglichkeiten gibt, vor denen Tortur und Gefahr der Kriegszeit verblassen? Und wagt sie den Blick in ein Inferno, wo Erdulden jeglicher Art, Schmerz und Blut, die grässliche Lust dieser Schinder erhitzt, die von Brueghel und Hieronymus Bosch gruppiert sind, aus dem Mittelalter ausgebrochen, um dort Versäumtes nachzuholen. Sieht sie die Augen dieser Komparsen des Schreckens, deren geschlechtliche Jugend die rätselhafte Verbindung von Qual und Wonne erlebt und behält? Denn selbst hier, bis zur Orgie in Blut und Kot, hat Natur ihren Anteil, und ein Höllentor ist eröffnet, aus dem es keine Rückkehr gibt für den Genießer; und keine Rettung der Menschenwürde, die solchem Bedürfnis erlag

Lachen über Hitler?

Das eigentliche Motiv für Kraus Rückzug des Manuskripts dürfte indes seine schmerzliche Einsicht in die Unverhältnismäßigkeit von Wort und Witz und Wesen des Beschriebenen, des Verspotteten gewesen sein.

Er, der Seismograph der Sprache, der in den kleinsten ihrer Deformationen diejenigen der Gesellschaft voraussah, aber auch den kraftvollsten Widerstand gegen beides leistete, er, der die bürgerlichen Schwindler entblößte, indem er sie beim Wort nahm, erkannte, dass gegen die Nazis keine Satire möglich war, weil bei ihnen Interesse und Ideologie, Wort und Tat in eins fielen. In allen Gebieten sozialer und kultureller Erneuerung gewahren wir diesen Aufbruch der Phrase zur Tat. Die Worthülse füllte sich diesmal mit echtem Blut, die Faust passte wirklich aufs Auge und Salz wurde tatsächlich in Wunden gestreut

Während Kraus Epigonen aber seinen unverstandenen Gestus imitierten und die Nazis verspotteten, rief er, der Sprachdenker, die Tat, rief er, der Anti-Politiker, die Politik, rief er, der Pazifist, militärische Gewalt zur Hilfe, und verzweifelte an der Unfähigkeit seiner Mitwelt, zu erkennen, dass all ihre inhaltlichen Auseinandersetzungen auf der Stelle sistiert werden müssten angesichts der Bedrohung, dass publizistischer Widerstand sich diesmal wie das Singen von Spatzen gegen Kanonen ausnähme.

60 Jahre nach Hitlers Tod traut sich in Form einiger jämmerlicher Filme und Cartoons eine satirische Subversion ans Tageslicht, die sich weniger gegen den Naziterror richtet das wäre etwas zu spät , als gegen das Pathos eines Lachverbots angesichts der negativen, retrospektiven Mystifikation dieses Terrors. Doch über Hitler in der Badewanne hätte sich niemand mehr krummgelacht als Goebbels, und Witze über das Regime wurden in kontrollierter, homöopathischer Dosis von diesem wie das Beispiel des Münchner Kabarettisten Weiß Ferdl zeigte als praktikable Ventile geduldet.

Wer heute noch mit der Parodie von zackigem Nazihabitus und Hitlers schnoddrigem Bellen aufzuklären glaubt, erweist sich als nicht minder antiquiert als das Parodierte selbst, wiewohl dieses das Letzte ist, was die MTV-Generation am Faschismus attraktiv finden könnte, da sie sich nach künftigen Wirtschaftskrisen wohl lieber von charismatischen Hip-Hoppern zum Pogrom wird hetzen lassen. Der HC-Rap, ein erster Rohrkrepierer auf dem Weg in diese Richtung, erwies sich wie sein Interpret schon deshalb als Lachnummer, weil Strache beim Versuch, den rechten Habitus der 30er Jahre neu zu codieren, weit hinter seinem Ziehvater Haider zurückblieb, irgendwo im Revuefilm der 50er Jahre, mehr Zappelphilipp denn Volkstribun, nicht mehr Baldur von Schirach und noch nicht MC Volkszorn, eher ein manisch-schusseliger Peter Alexander des rechten Ressentiments.

Weder neu noch klug ist der Nachweis also, wie lächerlich die Nazis waren, das wussten ihre Opfer auch, und sogar die Täter wussten es, solange die, die über sie lachten, noch am Leben waren.

Ganz gleich, ob der neue Anti-Nazi-Humor kritische Aufklärung prätendiert oder nicht mehr ist als die pubertäre Provokation einer undurchdachten Political Correctness, auch auf ihn trifft zu, was Kraus schon an all seinen Vorgängern erfasst hatte. Der Satiriker verwarf die satirische Verarbeitung des Nationalsozialismus nicht etwa im Namen eines humorlosen Moralismus, sondern als Resultat kühler Abwägung von Anspruch und Wirkung. Denn so Satire kein vegetatives Kitzeln ideologisch präformierten Bewusstseins ist, sondern der Ausweg aus diesem, kritisches Verfolgen eines Ziels mit humoristischen Mitteln, so erstarb ein Witz, der sich bei der Dekuvrierung von Schiebern und Halbbildung noch bewährte, im Stechschritt einer Bewegung, die kraft ihrer Lächerlichkeit ohnehin über ihre Kritiker triumphierte. Die Lächerlichkeit versteckte sich nicht mehr, man konnte den Nazis weder die Masken herunterreißen noch das Innerste ihrer Ideologie extrahieren, sie aber konnten denen, die es versuchten, ohne Wimpernzucken die Haut abziehen und die Eingeweide rausreißen. Charles Chaplin bekannte einmal, er hätte seinen Great Dictator nie gemacht, wenn er um das wahre Ausmaß der Nazigräuel gewusst hätte. Genial nimmt Kraus an den gängigen Blödeleien über die Nazis eine geistige (und folglich ethische) Abstumpfung wahr, die die Blödler dem Objekt ihrer Kritik mehr angleichen, als sie je wahrhaben könnten. Deutlich verrät sich heute noch in den Witzen über Hitlers Sexualprobleme, Goebbels Hinken, seinen und Hitlers Kleinwuchs, ihre dunkle Haarfarbe, eine uneingestandene Affirmation der Gesundheitsnorm, der Behindertenfeindlichkeit, des Rassismus, welche die Nazis schließlich vollstreckten.

Doch stattdessen auf Polemik dringen, erkennt Kraus, das könnte einer Gedankenarmut entsprechen, die unter Umständen an eine Rohheit streift, die der innersten Beziehung zum Übel nicht entbehrt. Es gibt einen Punkt der Betrachtung, von dem aus nichts mehr links oder rechts, sondern alles nur dumm erscheint. Kraus aber lehnte es ab, Kampfgenosse der Dummheit zu sein, die gar nicht ahnt, wie sie bis zur letzten Hitler-Anekdote das Ziel verfehlt.

Lesetipps:

Karl Kraus: Dritte Walpurgisnacht. Suhrkamp Verlag 1989

Michael Scharang: Zur Dritten Walpurgisnacht. In: Das Wunder Österreich. Luchterhand Verlag 1991