Kekse für die KüheDichter Innenteil

Die Abenteuer des Herrn Hüseyn (67)

In diesem Bezirk der Stadt wohnten hauptsächlich Menschen aus Dersim/Tunçeli. Obwohl sie schon in der Stadt waren, herrschen aber in diesem Bezirk dörfliche Strukturen. Ein- oder zweistöckige Häuser. Viele hatten Hühner und Kühe. Nachbarn redeten miteinander auf Kurdisch. Es herrschten nachbarschaftliche Beziehungen. Man borgte sich Brot oder Ähnliches.

Grafik: Carla Müller

Als Herr Hüseyin eines Tages mit einigen Schulfreunden die Lehrerin, die aus dem Westen der Türkei in den Osten der Türkei versetzt worden war, mit Milch der Kühe eines der Freunde in der Stadt beglücken wollte, geschah etwas sehr Komisches. Die Lehrerin freute sich, dass sie an einem Sonntag ihre Schüler aus der fünften Klasse bei sich in der Wohnung sah. Bevor Hüseyin und seine Freunde aus der Klasse die Wohnung verließen, fragte die Lehrerin, ob sie nicht übriggebliebene Kekse den Kühen mitnehmen könnten. Sie bejahten. Dieser Vorschlag, die alten Kekse der Lehrerin den Kühen zu bringen, gefiel ihnen. Sie waren glücklich, die Lehrerin, die auch in der Schule sehr freundlich zu ihnen war, an einem Sonntag zu treffen. Sie verabschiedeten sich von ihr mit einem gewissen Schamgefühl und machten sich auf den Weg in Richtung ihres Bezirks, der eigentlich ein Dorf war. Sie kamen an vielen Konditoreien vorbei und hätten sich gerne etwas gekauft, aber keiner von ihnen besaß Geld. Einer der Freunde Hüseyins sagte, dass es schade sei, diese Kekse einer Kuh zu geben. Sie schlugen den jeweils anderen vor, doch als Erste von den Kekse zu probieren. Keiner wollte der Erste sein, der die Glückskekse der Kühe zu sich nahm. Mehr als ein Kilo wogen diese Kekse. Ali, der Freund Hüseyins, machte den Anfang. Sie schmecken ihm. Die Reise zu Fuß bis zum eigenen Bezirk dauerte um die vierzig Minuten. Nachdem Ali die ersten «verdorbenen» Süßigkeiten zu sich genommen hatte, langten die andren drei auch zu. Sie waren ab dem Zeitpunk sehr gut drauf. Sie lachen. Sie hatten viel Spaß. Die vierzig Minuten vergingen wie im Nu. Die Last wurde immer weniger. Die Münder der Freunde kauten. Als sie im Bezirk ankamen, war der Sack für die Kühe leer. Auf der einen Seite waren die Freunde glücklich, weil sie die Mägen voll mit süßen Keksen hatten, auf der anderen Seite ein bisschen beschämt, weil für die Kühe nichts übrig blieb. Auch der Lehrerin gegenüber hatten sie ihre Pflicht nicht erfüllt. Was sollten sie der Lehrerin sagen, wenn sie nach den Keksen oder den Kühen fragt. Die Freunde machten sich aus, der Lehrerin, falls sie danach fragen würde, zu antworten, dass die Kühe die Kekse bekommen hätten. Nach Jahren sprachen sie immer wieder von der Episode. Einer von dieser Gruppe arbeitete nach der Volksschule in einem Lebensmittelgeschäft. Hüseyin musste später erfahren, dass dieser Kindheitsfreund in dem Geschäft von einem Unbekannten erschlagen wurde.

Als Hüseyin nach Österreich kam, kaufte er sich jeden Tag eine Tafel Schokolade. Beim Verzehr dieser Schokolade dachte er immer wieder an die Situation mit den Keksen. Bis er erstmals zum Zahnarzt musste, aß er jeden Tag Schokolade.

In Österreich mit einer neuen Sprache konfrontiert zu sein, versetzte Hüseyin wieder in die Zeit der ersten Schulbesuche im Dorf, als Türkisch Unterrichtssprache war.

Ihr Hüseyin