Krisensuppe und Inseratenstrecke oder Wie alles zusammenhängtDichter Innenteil

Wiener Ausfahrten Nr.136

Im Jänner 2010 war es so klirrend kalt, dass Groll seine Abneigung gegen Kaffeehäuser vergaß und den Dozenten im Café Central in der Herrengasse traf. Einem Kaffeehaus, das nur über Stufen erreichbar war, muss man in allen zivilisatorischen Fragen misstrauen, dachte Groll. Er hatte sowohl eine Dose Löscafé als auch eine Stulle mit Weinviertler Speck bei sich, und in einer Thermoskanne hielt er Wasser für den Kaffee bereit.

Der Dozent half Groll über die vielen Stufen ins Innere des Lokals. Rasch hatten die beiden einen freien Tisch gefunden. Groll goss heißes Wasser in eine mitgebrachte Tasse und rührte Kaffeepulver auf. Währenddessen legte der Dozent drei Zeitungsartikel auf den Tisch. Er müsse darüber mit Groll sprechen, es gehe um bedeutende republikanische Fragen.Lassen Sie uns mit dem Bundeskanzler beginnen, sagte der Dozent. Der war neulich im Kapfenberger Böhlerwerk zu Gast und bedankte sich beim Management dafür, dass keine Arbeiter entlassen werden. Er schloss mit der Versprechung: Es kommt für uns nicht infrage, wenn manche meinen, die Arbeitnehmer sollen die Suppe für die Krise alleine auslöffeln. Ich glaube zu wissen, was der Kanzler meint, aber ich verstehe nicht, was er sagt.

Ganz einfach, sagte Groll. Faymann geht davon aus, dass es eine Suppe für die Krise gibt, und zwar von der Böhler-Werksküche. Keine acht Tage nach dem Kanzlerbesuch teilt Böhler mit, dass 120 Mitarbeiter entlassen werden. Die Arbeiter wissen jetzt, was sie an ihrem Kanzler haben: einen Mann mit Weitblick. Er neidet ihnen ihre Suppe für die Krise nicht. Sie dürfen sie bis auf den Grund auslöffeln, und zwar ganz alleine.

Ein großzügiger Mann.

Sie sagen es. Er hat auch ein Herz für alte Männer. Im Kampfblatt für unerbittliche Menschenliebe ließ er im Herbst ein zwanzig Seiten umfassendes Inserat schalten, aus Steuergeldern, versteht sich. Das alles, um dem greisen Herrn Dichand ein wenig Freude ins Börserl zu zaubern.

Und der bedankt sich mit Überschriften wie der folgenden, setzte der Dozent fort: „Zwei 19-Jährige von Ausländern niedergeprügelt. Täter vermutlich Tschetschenen. Der Artikel ist eine einzige Hetze gegen Asylsuchende.

Groll packte sein Speckbrot aus, schnitt es mit seinem Schweizermesser in zwei Teile, reichte ein Stück dem Dozenten und legte seines appetitlich auf eine mitgebrachte Serviette. Der Dozent bedankte sich mit einem erfreuten Nicken. Ob der Kanzler weiß, was in seiner Lieblingszeitung geschrieben wird?

Davon ist auszugehen, sagte Groll.

Er verstehe die Faymannsche Logik nicht, sagte der Dozent kopfschüttelnd. Verbal grenze sich der Kanzler von Ausländerfeinden ab, gleichzeitig stecke er dem Kampfblatt für unerbittliche Menschenliebe Hunderttausende Euro in den Rachen.

Der Kanzler folgt einer uralten Logik, erwiderte Groll. Besser mit den Massen irren als gegen sie recht zu behalten.

Und wenn die Massen sich in rassistische und faschistoide Gewässer begeben?

Groll antwortete nicht, er ließ ein mitgebrachtes Stück Zucker im Kaffee verschwinden.

Der Dozent kramte in seinen Unterlagen. Lassen Sie uns zur Ökonomie wechseln, sagte er und zog einen Artikel hervor. Da wird diese ominöse Kärntner Bank auf Kosten des Steuerzahlers verstaatlicht, und dann setzt man in den Aufsichtsrat zwei Politiker im Ausgedinge, Lacina und Ditz. Und was unternehmen die beiden in ihrer ersten Aufsichtsratssitzung? Sie sprechen dem Hypo-Direktor Pinkl das Vertrauen aus. Wissen Sie, wo dieser Herr vorher gedient hat?

Groll schüttelte den Kopf.

Der Dozent beugte sich vor. Er war Chef der Volksbanken AG, die unter seiner Führung um ein Haar bankrott ging und mittels Staatshilfe saniert wurde, und er war Aufsichtsratspräsident der Kommunalkredit, die durch eine Totalverstaatlichung gerettet werden musste. Wo immer der Mann zugegen war und ist, setzt es Pleiten und verlorene Steuermillionen. Und dieser Herr soll jetzt die Kärntner Chaosbank sanieren!

Wer, wenn nicht er? entgegnete Groll. Pinkl ist ein herausragender Vertreter des österreichischen Bankwesens. Er hat Faymanns Maxime für das Finanzkapital adaptiert: Besser mit dem Markt irren, als gegen ihn recht behalten.

Politik und Ökonomie hängen doch enger zusammen, als ich immer wahrhaben wollte, sagte der Dozent, der plötzlich die Stimme gesenkt hatte.

Warum flüstern Sie?, fragte Groll.

Der Herr, von dem die Rede ist, sitzt dort drüben.

Der Mann, der eben seinen Kaffee umgestoßen hat?

Der Dozent nickte.

Quellen: Kronen Zeitung und Kurier vom 31. Jänner, Presse vom 20. Jänner 2010