Man müsste dich wo hineinschreibenDichter Innenteil

Am Küchentisch (7. Teil)

Als ich mich zum Küchentisch setzen wollte, bemerkte ich, meine Notizen in Wien liegen gelassen zu haben, während ich mich auf den Weg machte in meine Waldviertler Schreibstube, und ich dachte nach, was die Essenz des Gesprächs mit Gemma Salem vor zwei Wochen gewesen war. Ich stand wieder kurz davor, die Geschichte einer Frau zu schreiben, die über sich hinausgewachsen war und die uneigenartig unwillig ist, klein beizugeben, sich unterkriegen zu lasen. (Die meisten Autorinnen werden zu häufig unbeachtet links liegen gelassen, zu häufig erniedrigt, zu häufig in der Luft zerrissen. Das fällt doch auf! Da fliegen akademische Verbalinjurien den Demütigen um die Ohren, sodass einer die Tragik des sportivsten Wettlesen Österreichs nie nie vergehen wird.)

Du Gemma aber werkst mehr in den Zwischenräumen. Dort, wo geifernde Ungeheuer dich seltener attackieren können. Große Öffentlichkeit hat großen Preis. Ja. Publicity. Ich bin erfreut, dass dieses Jahr das Erste Wiener Lesetheater deine Wiener Dramolette aufgeführt hat, dich, die erste Biographin Michael Bulgakows und die erste Autorin, die außerhalb des deutschsprachigen Raums Thomas Bernhard ein ganzes Buch widmete. Während unseres Gesprächs im «Dorf», wo du neulich dein Buch «Thomas Bernhard und die Seinen» uraufgeführt hast, besprühst du unseren verdorrten Kontakt mit Charme, Lebensfreude offen gesagt, du pulsierst, vibrierst, philosophierst und hältst deine Meinung und deine Kraft nicht hinterm Berg. Nein, die verteilst du. Mehr Frauen deiner Qualität in Wien, ja, es würde fast zur Freude führen, hier zu leben! Mitnichten. Siebzig Jahre Gemma, ich muss Schwere und Leichtigkeit, des Alters Ambivalenz, erwähnen, Teil deines unvollendeten Feminismus, deiner Chance auf Anerkennung und der Möglichkeit des Verbreitens deines wachen und zornigen Verstandes mittels vieler Romane und Theaterstücke, die du schreiben musstest. Kann man das als Gemeinsamkeit bezeichnen, zwischen dir und Thomas Bernhard, den du mit deinen Artikeln in französischen Zeitungen, im Radio und Fernsehen und deinen Übersetzungen in Frankreich populär gemacht hast? Sein Tod war für dich Anlass zu tiefster Trauer. Bernhard hat dich gespiegelt. In Bernhards Texten hast du dich plötzlich gefunden, erkannt, verstanden gefühlt. Manche sagen Seelenmensch. Für mich bleibt deine Hingabe, Verehrung, geistige Bruderschaft an ihn, für ihn, mit ihm, nicht unverständlich. Ein Baum in der wüsten Landschaft der Einsamkeit.

Du initiiertest den «Le Prix Européen Thomas Bernhard», dessen Jury sich aus Spezialisten aus England, Italien, Holland, Spanien und der Schweiz zusammengesetzt hat. Doch leider verhinderten die Umstände das Zustandekommen dieses europäischen Literaturpreises. Thomas Bernhard hatte deinen Brief am Totenbett, sagst du. Zu Bernhard konnte ich erst sehr spät einen Zugang entdecken, ein Kellertürchen in mir aufmachen, als ich vor drei Jahren eine DVD in die Hand bekam: Interviews an einem See im schönen Österreich, ich mochte seine Art Fragen zu beantworten, sich nicht zu verteidigen, auszusprechen seine so notwendig gewordenen beißenden Worte, über ein Land, über seine braun verschissene Heimat, wo die Bewohner sich nicht im mindesten die Hände abwaschen, nachdem sie den anderen die Hintern abwischen. Das Trauma der Eltern als organisierender Faktor im Leben der Kinder: Gesellschaftliche Verdrängungs- und Verleugnungsprozesse beweisen die Unfähigkeit zu trauern, die Abwehr, sich zu erinnern, die emotionale Erstarrung hervorruft. Und im Stammhirn bekriegen sich die kollektiven Kränkungen über Jahrhunderte.

«Deine Komik, dein Humor Feuer des Überlebens!»

Du kamst aus dem antiken Antiochia, damals französisches Protektorat, deine Wurzeln glaubst du eventuell im Libanon zu haben, erzählst du mir mit einem sehr kräftigen Lachen. Deine Komik, dein Humor Feuer des Überlebens! Du lebtest in Paris, der Schweiz und schließlich Österreich, wohin Thomas Bernhard dich quasi herbeigeschrieben hat. Man müsste dich wo hineinschreiben. Viele Frauen müssen wir noch hineinschreiben. Hinein in das, was übrigbleibt oder auch nicht. Sie müssen unvergessen bleiben, aufrufbar, um Hoffnung auf eine so dringend gewordene soziale Reform zu machen. Auch zwischen uns Frauen. Du erzählst weiter. Und dann ist es da. Es liegt in der Luft, das, was wir beide teilen, das Gefühl fremd, unerwünscht zu sein in diesem Land. Die Dinge, die man spürt und sieht, die so schrecklich sind, dass man sich fremd fühlen muss, muss!, um weiterleben zu können, um Distanz zu schaffen zwischen Wahnsinn und Alltag, hier, auf einem Flecken Erde, den manche Heimat nennen. Kein Wort so fremd wie dieses. Meine Erinnerungen. Tannenbäume. Kerzenschimmer am Weihnachtsabend. Der Schnee im Hof. Skifahren in Gastein. Der Geruch von Kastanien. Das Flackern der Pappeln im Gänsehäufel. Rodeln am Hang in Grinzing. Spargel aus Seebarn. Die Wäsche im Wohnzimmer meiner Nachbarsfreundin. Motorboot fahren in der Kuchelau. Und meine Freunde, meine Freunde. Wo sind sie alle hin! Lass mich deine Freundin sein, Gemma, lass mich, Heimat existiert doch nur zeitlich, selektiv. Wie eine Geisteskrankheit.

Davon sind wir doch etwa nicht befallen, Gemma, nein was für ein Glück.