Mein letzter BriefDichter Innenteil

Briefe an die Mama

Hallo Mama!

Mir geht es zurzeit nicht so gut. Der Bundespräsident hat mich damals, als er die Ausstellung im Austrian Culture Forum in New York besucht hat, wo ich mitgewirkt habe, nicht zu sich eingeladen. Ich konnte nur über meine ausgestellten Fotos erzählen.

Den Lugner kenne ich auch nicht persönlich. Den muss ich auch nicht kennen. Auf den Serafin bin ich nur neidisch, denn obwohl er nicht tanzen kann, ist er auf allen Hochzeiten. Ich erhielt nicht einmal eine Einladung zur Integrationsmesse. Von den hiesigen Migranten bekomme ich auch keine Aufträge zum Fotografieren. Durch die österreichische Botschaft habe ich zwar in zwölf türkischen Städten über Migration Ausstellungen gehabt, aber die Migranten hier kennen mich nicht.

Vater kannten sie besser, weil er immer unter ihnen war. Ich mag selber nicht dieser Ghettoisierung angehören. Auf die Hochzeiten gehe ich auch nicht, weil ich keine Einladungen bekomme, und in deren Kaffeehäusern halte ich mich auch nicht auf.

In der Früh nehme ich mir als Erstes einen Tschik! Ja, ja, mein Vater sagt es auch: «Mein Sohn, du wirst dich noch umbringen!» Körperlich bin ich in der Gegenwart anwesend, aber gedanklich mache ich eine Reise in die Vergangenheit. Alte SW-Aufnahmen. Ich stelle sie auf Facebook. Viele dieser Menschen auf den Fotos leben nicht mehr. Meine Leute, von denen manche nicht ins Dorf fahren dürfen, sind genau so sentimental wie ich. Diese Zeilen schreibe ich, während ich auf der Straße gehe. Dank neuester Technik kann ich im Gehen schreiben.

Es sind nun ein paar Tage verstrichen, an meiner Stimmung hat sich nichts geändert. Obwohl ich seit dreißig Jahren fotografiere, auch ein Kunststudium abgeschlossen habe, bekomme ich kaum Aufträge. So viele Möglichkeiten im Land der vielen Möglichkeiten gibt es doch nicht! Am liebsten würde ich wieder zurück ins Dorf gehen, mir ein paar Ziegen kaufen und mich aus dem Kulturleben dieser Stadt herausstreichen! Nein, es gibt für Künstlerversager keine Therapie auf Staatskosten. Oder vielleicht doch! Bevor ich zurückkomme, würde ich meine ganzen Fotoapparate, Objektive, Diaprojektoren, Dias, SW-Filme, Festplatten mit über hunderttausend Fotos, meine Speicherkarten am Heldenplatz aufhäufen und mit einer Walze drüberfahren. Das ganze Zeug hat sowieso nur im stillen Kämmerlein so viele Jahre ausgeharrt. Sie wurden für mich zur Last! Im Gedächtnis habe ich die Aufnahmen sowieso! Außerdem kann heutzutage jeder und jede aufgrund der technischen Möglichkeiten, ohne sich mit Fotografie ernsthaft auseinandergesetzt zu haben, knipsen! Hierzulande schaut man nicht unbedingt auf gute Fotos, sondern man setzt auf gute Beziehungen, damit man Aufträge erhält. Ich könnte mich dann vielleicht besser auf meinen Brotberuf Sozialarbeiter konzentrieren.

Ich war auch bei einer Podiumsdiskussion. Die Migranten wollen ein Archiv für ihre Geschichte in Österreich haben! Sollen sie haben, wenn es nach mir geht. Wie sie das machen werden? Geld werden sie brauchen, und zwar viel Geld!

Nach der Veranstaltung war ich mit einem Freund bis in die Früh unterwegs! In einem Lokal in der Nähe vom Gürtel, in einem Kellerlokal, in dem es keinen Sonnenschein gibt und man keinen Integrationsschein braucht. Einer meiner Jungs aus meiner Zeit im Jugendzentrum, den ich seit seinem fünften Lebensjahr kenne, arbeitet dort. Er hat sich nach mir gesehnt!

Bis acht Uhr gibt es dort Livemusik, dargeboten von einem Saz-, einem Keyboardspieler und zwei Sängerinnen: klassische türkische Hofmusik und Volksmusik aus verschiedenen Gebieten der Türkei. Die Sängerinnen können sich dank der Funkmikros bei den Tischen aufhalten. Ab und zu singen auch die Gäste mit! Gegen sieben Uhr frühmorgens verlassen wir das Lokal, Anatolien liegt nun hinter uns im Keller! Wir sind wieder auf der Erdoberfläche am freien Gürtel, in Freiheit, unterwegs in Richtung U6-Station Burggasse.

Liebe Mama, ab sofort werde ich eher mit dir telefonieren statt zu schreiben!

Oder wir chatten!

Bis bald!

Dein Sohn Mag. art Memo