Nach der Wahl oder Der menschliche FaktorDichter Innenteil

Herr Groll auf Reisen. 266. Folge

Sie saßen im Park eines jüdischen Pflegeheims in der East Houston Street und teilten sich ein Pastrami-Sandwich von «Katz‘s Deli». Der schattige Platz war ihnen als Zuflucht erschienen, trotz der frühen Sonntagsstunde war es schon drückend heiß, und der klimatisierte «Katz» verfügte zwar über eine Rollstuhltoilette, aber im Lokal herrschte der Lärm eines Walzwerks.

Foto: Mario Lang

Der asphaltierte Park war von den Wurzeln mächtiger Platanen in eine Berg- und Talbahn verwandelt worden. «Deswegen ist der Park auch leer», meinte der Dozent. «Die alten Herrschaften trauen sich nicht in ihren Park, weil sie Stürze fürchten, und was Stürze für betagte und greise Menschen bedeuten, brauche ich Ihnen, geschätzter Groll, ja nicht zu erklären. Im Übrigen schmeckt das Pastrami-Sandwich vorzüglich.»

Groll wischte sich über die Mundwinkel. «Es wundert mich nicht, von Ihnen umstandslos zu Greisen und Hinfälligen gezählt zu werden. «Ich weiß, Sie haben es nicht so gemeint. Das aber macht die Sache nicht weniger verwerflich. Ein Mensch, der nicht in der Lage ist, zu sagen, was er meint, sollte sehr vorsichtig sein.»

«Oder er sollte in die Politik gehen. Dort gilt so etwas als volksnah», erwiderte der Dozent.

Das sei ein billiger Anwurf, der Dozent betreibe wohl das Geschäft der Rechten, beschied Groll. «Man soll die Politik scharf kritisieren. Man soll Sie aber auch loben, was selten, aber doch angebracht ist. So bei Angela Merkels mittlerweile berühmten Satz: Ich muß ganz ehrlich sagen: Wenn wir jetzt anfangen, uns noch entschuldigen zu müssen dafür, dass wir in Notsituationen ein freundliches Gesicht zeigen, dann ist das nicht mein Land. Oder Werner Faymanns Feststellung über den ungarischen Premierminister und dessen Umgang mit Flüchtlingen, welcher an die Verschickung ungarischer Juden in die Vernichtungslager des Ostens erinnere. In beiden Fällen sind da altgediente Politiker über sich hinausgewachsen. Das zeugt von der Schwere der Krise, ist aber auch ein Beleg dafür, dass dem menschlichen Faktor in der Politik ein hoher Stellenwert zukommt. Das gilt ebenso für Bürgermeister Häupl. Es ist nicht selbstverständlich, dass ein Sozialdemokrat ohne Ansehen der Meinungsumfragen eine menschenrechtlich korrekte Politik macht und sie mit Klugheit und Verve verteidigt – schauen Sie nur in die Slowakei oder nach Tschechien. Dort machen die Sozialdemokraten den Rassisten die Steigbügelhalter. Oder haben Sie von den polnischen oder ungarischen Sozialdemokraten ein Wort der Solidarität mit Flüchtlingen gehört? Auch die Rolle der deutschen SPD ist über ein jämmerliches Niveau nicht hinausgekommen. Die Sozialistische Internationale sollte sich aus Scham auflösen.»

Ein treffendes Wort, sagte der Dozent und fügte hinzu: «Hätten Sie je gedacht, dass so viele Landsleute sich in bewunderungswürdiger Weise für Flüchtlinge engagieren? Selbst die Bundesbahnen sind über sich hinausgewachsen!»

Er teile die Begeisterung, sagte Groll. Sie lebe aber nur von der hellen Seite des Mondes. Führe man sich die Wiener Wahl und ihre Folgen vor Augen, dürfe man die Augen vor der Finsternis nicht verschließen. Österreich sei ein zutiefst gespaltenes Land.

Der Dozent schwieg eine Weile. Dann sagte er: «Bei Stürzen von gebrechlichen Menschen, die oft einen Oberschenkelhalsbruch nach sich ziehen, gilt die Dreierregel: Ein Drittel kommt nach intensivem Training wieder auf die Beine, ein Drittel bleibt auf den Rollstuhl angewiesen oder wird bettlägerig, das restliche Drittel überlebt Sturz und Operation nicht. Ich nehme an, dass Sie in der Gesellschaft eine ähnliche Trias sehen?»

«Ich würde das bejahen», sagte Groll. «Ein Drittel der Damen und Herren Landsleute ist auf der Höhe der Zivilisation, ein schwaches Drittel schwankt je nach Stimmungslage, und ein starkes Drittel ist schon vor langem ins Lager der niederträchtigen Hetze und des Rassismus abgedriftet. Mit letzteren ist es müßig zu sprechen, ihr Weltbild ist durch nichts zu erschüttern.»

«Entscheidend ist daher, dass die Zivilisierten ohne Furcht öffentlich für die menschliche Sache einstehen», führte der Dozent den Gedanken weiter. »Nur so lässt sich das Versinken der Schwankenden in der Barbarei verhindern. Sie brauchen Beispiele, an denen sie sich aufrichten können.»

«Soweit zum menschlichen Faktor», sagte Groll. «Hiermit ist die Sonntagspredigt im jüdischen Pflegeheim in der East Houston Street, New York, beendet. Sachspenden werden von meinem Assistenten entgegengenommen, Geldspenden von mir.»

«Amen!», sagte der Dozent, sammelte die Reste des Butterpapiers ein und warf sie in eine Mülltonne.

Im Augustin-Interview spricht Erwin Riess über seine Theaterstücke «Herr Grillparzer fasst sich ein Herz und fährt mit einem Donaudampfer ans Schwarze Meer» und «Die Loibl-Saga» (S. 24–25)