Sigi Maron und der ratlose FroschDichter Innenteil

Herr Groll auf Reisen. 285. Folge

Der Dozent traf seinen Freund Groll beim Einlaufbauwerk des Donaukanals in Döbling. Groll starrte ins Wasser.

«Freund Groll, ich habe vom Tod Sigi Marons erfahren.» Der Dozent lehnte seine Rennmaschine an einen Baum.

«Es ist fürchterlich», der Dozent hockte sich neben Groll auf die Fersen und schaute auf die graue Donau. «Auch der Fluss trägt Trauer.»

Foto: Mario Lang

Groll nickte. Nach einer Weile sagte er:

«Über Sigis künstlerische Arbeit, seine revolutionären Protestlieder, berichten alle Zeitungen, Boulevardmedien und Magazine – in vielen verlogenen, nicht wenigen hassgetränkten und herzlich wenigen ordentlichen Nachrufen. Der ORF tut sich besonders hervor. In all seinen Programmen und Kanälen wird Sigi Marons Tod verkündet, einige Kommentatoren machen eine traurige Miene. Dass die Sendungsverantwortlichen sich dabei vor Scham nicht ankotzen, ist mir ein Rätsel. Es war der ORF, der per offiziellem Ukas an alle Redaktionen Auftritte und Lieder von Sigi Maron durch dreißig Jahre verbot. Herr Klausnitzer, dessen Schleimspur von den österreichischen Nationalmedien bis ins Kulturmanagement führte, hatte in den achtziger Jahren sogar die Stirn, die Zensur gegenüber Sigi Maron schriftlich zu begründen. Im Falle Maron fand die Republik zu sich. Freche und aufmüpfige Zeitgenossen haben in diesem Land nichts zu gewinnen, sind sie dann auch noch Kommunisten und behindert obendrein – wo doch die behinderten Menschen gefälligst ihr Schicksal gottergeben zu tragen haben –, wird gegenüber dieser Person des öffentlichen Ärgernisses der Ausnahmezustand ausgerufen.»

Groll schwieg. Der Dozent wischte sich den Schweiß von den Augen.

«Und wie immer stand die SPÖ auf der Seite der Feinde Sigi Marons – mit Ausnahme der oberösterreichischen Sozialistischen Jugend», fuhr Groll fort. «Noch heute ist die SPÖ nicht in der Lage oder willens, einen behinderten Menschen zum Behindertensprecher zu machen. Stattdessen plustern sich ahnungslose nichtbehinderte Funktionäre der fünften Garnitur auf. Innerhalb der damals noch existierenden Linken fand Sigi dennoch sein Publikum, sein Aufstieg zum Bob Dylan des Deutschen Sprachraums aber wurde von ORF und Staatszensur zunichtegemacht. Die KPÖ, für die Sigi kämpfte und viele Auftritte und Wahlkämpfe bis zur physischen und psychischen Erschöpfung bestritt, bot ihm Auftrittsmöglichkeiten. Dennoch war die Partei zu ihm oft lieblos, und die Unterstützung geriet halbherzig. In der DDR war das anders: Dort war Sigi ein Star, dort erfuhr er den liebevollen Respekt, dessen er so sehr bedurfte. In der DDR erschienen seine Platten in riesigen Auflagen, seine Konzerte wurden im Hauptabendprogramm des DDR-Fernsehens übertragen. Als die DDR von innen und außen zum Einsturz gebracht und der Rest an die Treuhand verscherbelt wurde, saß Sigi auf einem großen Batzen DDR-Mark. Er hat ihn nicht angerührt.»

Ein Kabinenkreuzer rauschte stromabwärts fahrend vorbei. Groll beachtete ihn nicht.

«Drei Tage vor Sigis Tod wechselten wir noch E-Mails, es ging um den abgeschafften Kündigungsschutz für behinderte Menschen. Die ÖAR, der Dachverband der behinderten Menschen, war ebenso wie die Behindertensprecher der Koalitionsparteien für die Abschaffung eingetreten. Mit dem Effekt, dass die reale Arbeitslosenrate von behinderten Menschen auf das Doppelte gestiegen ist. Behinderte Menschen werden als Erste entlassen, wenn es zu wirtschaftlichen Problemen im Betrieb kommt.

Sigi Maron hat gegen diese sozialpolitische Konterrevolution immer wieder in seinen Liedern und Auftritten protestiert. Höflich, vornehm und dezent, wie es seine Art war, allerdings unter Einschluss eines gewissen obszönen Wortschatzes.»

«Seine Worte», sagte der Dozent. Groll nickte.

«Sigi ging davon aus, dass unter seinen Fans auch junge Nazis sind», fuhr Groll fort. «Er fügte hinzu: ‹Mit jungen Leuten Leuten bis zwanzig muss man diskutieren, die darf man nicht in Bausch und Bogen als Nazis abqualifizieren. Mit Fünfundzwanzigjährigen hingegen muss man vorsichtig sein, die müssen wissen, was gespielt wird. Und ab dreißig erschlagen wir sie, wenn sie dann noch Nazis sind. Du merkst schon, Groll, aus mir spricht auch die Angst, die du als behinderter Mensch hast, wenn man diese Leute wieder an die Macht kommen lässt›.»

«Sigi erzählte auch von der Waldschule», setzte Groll fort. «Das ist eine Sonderanstalt für behinderte Menschen in einem Föhrenwald bei Wiener Neustadt. Am Höhepunkt der Polio-Epidemie Ende der fünfziger Jahre waren schwer erkrankte Kinder dort untergebracht. Sigi lag wochenlang in der Eisernen Lunge, er war gelähmt, vermochte nicht einmal den Kopf zu drehen oder mit den Augenlidern zu zwinkern. Fliegen ließen sich auf Sigis Gesicht nieder. Er konnte sie nicht abwehren. Also stellte er sich vor, dass auf seiner Stirn ein Frosch sitzt, der die Fliegen frisst. Mit diesem Frosch hab ich mich angefreundet, er war der erste Genosse in meinem Leben», sagte Sigi. «Und jetzt ist Sigi Maron tot. Und der Frosch muss schauen, wo er bleibt.»

Ein Polizeiboot fuhr vorbei. Groll und der Dozent schauten nicht auf.