Die Russen kommen und ein BildDichter Innenteil

Erster Teil

Es war ein Bild aus dem finstersten Mittelalter – so empörend, dass man es kaum glauben konnte, und doch so wahr wie die Hölle, die der Mensch ewig sich selber schafft.*

Illu: Silke Müller «Stillgestanden»

Schnell, schnell weg, verstecken, in den Stall, alles ausgelöst durch die Schreckensmeldung «Die Russen kommen»: Der Schauplatz an der Stufe vom kleinen Waschkammer in den Stall: Die Szene kann Meinrat noch immer abrufen, als erste Erinnerung in seinem noch nicht einmal dreijährigen Leben, am Arm getragen von einem älteren Nachbarskind oder einem der Geschwister. Die Holztür mit dem Riegel, der im Jugendalter von Meinrat und seinem Bruder, mit einem Nagel, durchgesteckt durch den Spalt zwischen den Brettern, zur Seite geschoben werden konnte, wenn man spät nach Hause kam, hätte aber wohl keinen Schutz geboten. Auch nicht vor Einbrechern, die eventuell auf dieselbe Weise sich Zutritt verschaffen könnten, so die oftmaligen Befürchtungen Meinrats, die ihm dann den Schlaf raubten, horchend auf verdächtige Geräusche.

Nichts war in dieser Zeit schlimmer als die Russen, untermauert mit Begebenheiten, wo russische Soldaten auf der Suche nach Frauen und Uhren zur Begrüßung prophylaktisch durch geschlossene Türen schossen. Die Russen als Metapher für alles Böse in dieser Welt, dabei war das Böse schon sieben Jahre im Land, viele bemerkten es nicht, andere taten ihre Freude darüber auch öffentlich kund. Und niemand hätte sich vorstellen können, dass, wenige Generationen später, reiche Russen besonders umworbene und gern gesehene Gäste in Österreichs Touristenzentren sind und Fußballprofis aus den heißen Tropen in Russland und damit auch im eiskalten Verbannungsland Sibirien für hohe Gagen spielen.

Da marschieren sie vor der Kirche auf, die Kameraden

Meinrats Blicke schweiften ab, hinüber in den abschüssigen Obstgarten, das dumpfe Donnern der großen Trommel und noch viel mehr der Böller gingen der Trauergemeinde tief ins Gemüt und auch er konnte nicht verhindern, dass beim Abschiedslied vom Kameraden für seinen Onkel, den er als arbeitsamen und sehr umgänglichen Menschen in Erinnerung behielt, Wasser in seine Augen trat. Die Abordnung des Kameradschaftsbundes hatte sich davor dem lauten, kräftigen Kommando, STILLGESTANDEN, gefügt. Meinrat ist sich nun nicht sicher, ob schon damals junge Männer aus seiner Generation dabei waren, später definitiv. STILLGESTANDEN wird auch zu Allerheiligen, da marschieren sie vor der Kirche auf, die Kameraden. Meinrats Erinnerung setzte ein, als die Veteranen noch unter sich waren, später marschierten zur schmetternden Musik selbst Schulkollegen Meinrats mit, in Reih und Glied. Und nach der Messe, vor dem Kriegerdenkmal wurde es noch strammer. STILLGESTANDEN, nicht nur für den Trauermarsch der Blasmusik-Kapelle, sondern vor allem für die Rede des Obmanns des Kameradschaftsbundes. Ringsum ehrfürchtig und andächtig, nicht nur die Kirchengeher – der Pfarrer, so schien es, spielte bei diesem Zeremoniell nur eine untergeordnete Rolle – schmetterten die eindringlichen Wortkaskaden über den Kirchenplatz vor dem Kriegerdenkmal. «Millionen von Gräber bleiben heute ungeschmückt – Gefallen für Volk und Vaterland – Sie haben ihr Leben gegeben für die Verteidigung unserer Heimat», solche oder ähnliche Vergangenheitsbeschwörungen, die in ihm auch wohl ein schlechtes Gewissen erzeugen sollten, blieben über viele Jahre hinweg in Meinrats Gedächtnis haften. Hier gibt es kein Entrinnen, die Reihen dicht geschlossen. Als Gegenmittel trägt nun Meinrat Weckers warnendes Vaterlandslied «Und im Geist, da hört er´s marschieren. Und im Geist da marschiert er scho mit», mit den so einschmeichelnden Marschklängen, die offensichtlich so gut fürs Mitmachen motivieren können, in sich. Und weiters hatte sich in seinen Ohren spät, aber doch, der «Big Parade-Wurm» der Lumineers eingenistet: «All my life I was blind, I was blind, now I see.»

Dass anstatt von Brotlaiben Menschen gebacken wurden

Das wenige von der Weltkriegszeit Erzählte verbarg die Verbrechen. Hinterher redete man nur darüber, dass sich das bevorstehende Unheil angekündigt hätte. Ein flammendes Abendrot breitete sich über das Firmament und ließ die örtlichen Feuerwehren jeweils in die Nachbarorte aufbrechen. Meinrat begann sich später zu fragen, warum er so früh ausscherte aus der allgemeinen Haltung der örtlichen Gemeinschaft und seine Sensibilität gegenüber dem Ewig Gestrigen geschärft wurde. Es blieben wenig Zweifel: Ein grauenhaftes Bild von einem Verbrennungsofen in einem KZ hatte sich unauslöschlich in sein Gedächtnis gebrannt. Bis heute kann er einfach nicht glauben, dass anstatt von Brotlaiben – die damals von seiner Mutter in den blau-weiß gekachelten Backofen geschoben wurden, wobei Meinrat oft die nicht allzu trockene (damit das Feuer nicht zu schnell verpuffte) Fichtenscheiter heranschaffte und auch nach so vielen Jahren den Geschmack des frischen Brotes verspürt, das herausgerissen aus dem noch warmen Laib so besonders war, dabei auch riskierte, von der Mutter auf die Finger geklopft zu werden, denn er möchte das Bauernbrot eigentlich nur in diesem Zustand und tauschte es in der Schule gerne mit den Marktkindern für das so rare und daher begehrte Bäckerbrot – Menschen gebacken wurden. Deren «Verbrechen» bestand nur darin, nicht dem Menschenbild der herrschenden Klasse zu entsprechen. Als Kind hatte Meinrat spontan angenommen, dass der arme, bis zum Skelett abgemagerte Mensch lebendig verbrannt wurde. Welchen Unterschied macht es aber, wenn der Tod vorher qualvoll durch Giftgas eingetreten war? Vergeblich suchte er hinterher die Herkunft des Bildes zu ergründen. Nur die Kirchenzeitung, die Stadt Gottes, der Bauernbündler, einige Jahresbücher und die Kataloge von Kastner & Öhler und Quelle (besonders deren Sommerkatalog hatte es Meinrat angetan, denn hier fand er für sein erwachendes Interesse für die Weiblichkeit für die damalige Zeit besonders freizügige Seiten) lagen in der Stube. Und in der Schule? Detto Schweigen, selbst die Geschichtsbücher endeten abrupt spätestens zwischen den Weltkriegen.

Willst du unsere Vätergeneration beleidigen?

«Was redest du groß daher, da hast das nicht miterleben müssen, hast keine Waffe in die Hand nehmen müssen.» «Ja, genau das ist der Punkt. Ich genieße die Gnade der späteren Geburt und es steht mir nicht zu, zu behaupten, dass ich in einer solchen Situation, zumal groß und blond, nicht nur ein Mitläufer gewesen wäre, sondern vielleicht NSDAP-Mitglied oder noch Schlimmeres. Ich kann auch nicht behaupten, ich hätte Widerstand geleistet und wäre so wie der Jägerstätter bis zum Äußersten gegangen und hätte mein Leben riskiert. Aber nun hinterher, da wir in Frieden und Wohlstand aufgewachsen sind, muss man doch die Dinge beim Namen nennen und nichts beschönigen, relativieren oder gar in Ehren halten oder verteidigen.» «Willst du unsere Vätergeneration, die für uns die Schädel hingehalten haben, beleidigen? Du hättest doch in die Hos´n g`moacht, wenn du mitmachen hättest müssen, es ist doch unsere Pflicht, das Andenken an die Zeit zu bewahren und die Kameradschaft, die diese Menschen so vereint, ja zusammengeschweißt hat, weiter zu pflegen.» «Oh, du meine Güte, ich verstehe ja, dass diese Soldaten, die entweder aus falscher Euphorie oder doch aus Zwängen heraus in den Krieg zogen, ihre Kameradschaft so schätzen. Aber auch sie sollten hinterher doch begreifen, wie sehr sie von diesem schrecklichen Völkermordregime missbraucht wurden. Und sie haben nicht die Heimat verteidigt, sondern es war ein Angriffs- und Raubkrieg unter dem Motto der Unterwerfung anderer Völker und der gezielten Ausrottung von Menschen.» «Und war etwa der Stalin nicht genauso ein Massenmörder wie der Hitler? «Was soll das denn? Ich will weder die Verbrechen Stalins oder eines sonstigen größenwahnsinnigen Egomanen verteidigen, aber das steht jetzt nicht zur Debatte.» «Ach, lassen wir doch die alten Geschichten, das ist doch schon solange her, wie willst du wissen, wie das damals wirklich war? Außerdem haben unsere Eltern aus den Trümmern wieder alles aufgebaut, damit wir ein gutes Leben haben.» «Ich will ja nicht bestreiten, dass die Kriegsgeneration viel gelitten hat und unter großen Mühen unseren Wohlstand geschaffen hat. Aber muss unter dem Deckmantel der Ehre und lieb Vaterland die Geschichte immer wieder verfälscht und dazu noch die alte, braune Suppe immer wieder aufgewärmt werden?»

Vergebliche Müh: Meinrat konnte keinen einzigen Jungkameraden dazu bringen, nicht mehr mitzumarschieren.

Hans Bogenreiter

* Zitat aus „Es führt kein Weg zurück» von Thomas Wolfe. Der US-amerikanische Schriftsteller war in den 1930er-Jahren ein glühender Bewunderer deutscher Kultur, bis er die Anfänge des Nationalsozialismus hautnah miterlebte und auch warnend vor dem drohenden Unheil zu Papier brachte. Sein allzu früher Tod verhinderte, dass er nicht mehr miterleben musste, wie seine Ahnungen so grausam und unerbittlich Realität wurden. Warum Meinrat das genannte Werk plötzlich in seiner Büchersammlung fand, ist ihm bis heute rätselhaft und unerklärlich.

2. Teil