Versteh’ nur Bahnhof (2)Dichter Innenteil

«Sie sind kein Tourist»

Ruud van Weerdenburg ist viel unterwegs, meistens mit dem Zug. Mitunter kommt er dabei aus der Bahn …

Illu: Ruud van Weerdenburg

 

Gut vorbereitet zu sein auf einer Reise braucht eine Art innerlichen Vorgang – nach Ptuj, wo eine Aufführung von Lorcas Stück «Publikum» stattfand, fuhr ich mit Bekannten. Übernachtet hatte ich im Haus des Regisseurs und irgendwann brach ich dann auf zurück nach Österreich, nach Graz.

Ich wollte meinen Weg, ohne Gepäck, zu Fuß gehen, solange es mir Spaß machte. Später könnte ich ja den Bus nehmen oder in den Zug steigen. Also: mit nur einem Wintermantel an, oder besser gesagt, ihn unter dem Arm mitgenommen – Zahnbürste und Kamm dabei – irgendwo den Reisepass weggesteckt, war der lange Spaziergang nicht nur erholsam, er brachte mich auch auf neue Ideen. Beim Grenzübergang nach Österreich befand ich mich im Zug, und zwar allein in einem Waggon. Der Schaffner oder Zollbeamte oder beides in einem fragte mich, wo sich mein Gepäck befand. Ich zeigte auf den aufgerollten Wintermantel im Gepäcksträger gegenüber von mir. Der Mann hielt dabei meinen geöffneten Reisepass schon länger in der Hand und sagte: «Das ist kein Gepäck. Wenn Sie kein Gepäck dabei haben, sind Sie kein Tourist!» «Ich habe noch nie die Ambition gehabt, ein Tourist zu werden.» Das hätte ich natürlich niemals sagen dürfen. «Wie viel Geld haben Sie mit?» Ich zählte nach und klärte ihn auf. «Wissen Sie, wie viel Geld Sie täglich in Österreich ausgeben müssen?» Er nannte mir einen Betrag, sodass mir beinahe schwindelig wurde. Ich nannte ihm Namen und Telefonnummer von einem Professor und dem ORF-Intendanten in Graz, mit denen ich befreundet war, die diese Sache klarstellen hätten können, aber er lief ohne weiteres zu sagen mit meinem Pass in der Hand aus dem Fahrzeug. Und ich folgte.

Österreich war damals noch nicht in der EU. Alle halben Jahre ein Stempel in meinem Pass konnte also quasi meinen offiziellen Aufenthalt verlängern. In dem kleinen Zollhaus wurde mein Name in den inzwischen antiquierten Computer getippt, und ja, in Bremen hatte jemand unter meinem Namen ein Verbrechen begangen! Ich war aber noch nie in Bremen gewesen. Auf einmal sah der Beamte sehr zufrieden aus und hatte im Grunde keine Aufmerksamkeit mehr für mich. Als sein Kollege in den kleinen Raum hereinkam und mich dort in der Ecke sitzen sah, mit dem Rücken zur Wand, beantwortete ich seinen überraschten Blick mit: «Ihr Kollege hält mich ohne Grund fest.» Der Mann kam auf mich zu und schlug mir links und rechts hart ins Gesicht. Wie das dann weiter gelaufen ist, erinnere ich mich nicht einmal mehr. Das muss ich wohl ausgeblendet haben – aber ich sitze nun hier und bin fähig zu erzählen. Also: Lassen Sie uns einen Ausflug in die englische Sprache unternehmen, und «all is well that ends well» sagen.

 

Versicherung

 

Der Bekannte, der Gitarre in Bruck an der Mur unterrichtet, war am Bahnsteig in Graz nicht zu sehen. Fast jede Woche fuhren wir gemeinsam im Speisewaggon zur gleichen Zeit, bis die große, blaue Brücke auftaucht, und ich danach allein übrig blieb – bis Wien.

Das Instrument immer im Futteral, so aufrecht, als ob die Gitarre auch tatsächlich mit uns wartete, und wir schauten einander an, als es dann wieder auf Englisch: «Stand clear!» erklang, als Übersetzung für «Aufpassen!», jedes Mal, wenn der Zug in den Bahnhof schlich. Wie macht man das? «Deutlich stehen!»

Einmal fragte ich ihn, ob er nicht auch irgendwann einmal seine Gitarre beim Aussteigen vergessen hatte. Mit einer Handgeste gab er schweigend Antwort: «Schon öfters!» Und nach einigen Minuten erwiderte er auf meine Frage hin, ob er das Instrument auch wieder zurückbekommen hätte: «In Maribor gefunden, in Linz, in Wien … und immer wieder zurückbekommen.»

So etwas bewirkt ein von Natur aus sicheres Gefühl, und das braucht man heutzutage. Ich selbst hatte einmal in Wien eine Windjacke im Zug vergessen bevor ich nach Amsterdam flog. Und als ich zurückkam, hing sie so schön im Fundamt – ich entdeckte sie auf den ersten Blick –, dass ich der Frau hinter dem Schalter dankte für das Bügeln. «Nein, wir haben hier keine Waschmaschine», lächelte sie.

Zu meiner Überraschung gab es noch einige zusammengefaltete Banknoten darin – das konnte ich auch brauchen … die schienen wohl auch gebügelt; ich überlegte, ob das Geld bei so viel altmodischer Ehrlichkeit vielleicht inzwischen auch weiß gewaschen war.

Dieses Mal setzte ich mich nicht in den Speisewagen, anstatt dessen landete ich bei jemandem, der nach vorne gebeugt in ein Diktiergerät sprach: «Nr. 12, Herr so und so, gestorben, versichert bei XXX, Nr. 13, Frau so und so, gestorben, versichert bei XXX.» Es hörte nicht auf, alle anderen Waggons waren voll. Ich war dort, wie in einer Art Verkörperung der Fleisch gewordenen «Schach-Matt-Stellung», und konnte mich nicht einmal mehr bewegen. Der ganzen Totenströmung, quer durch alle Jahrhunderte hin, so breit wie die Erde selbst, konnte ich diesmal nicht entgehen. Wie ein neuer eiserner Vorhang, der sich nicht nur als eine Vorhangabteilung, sondern über die ganze Welt hin verhangen zu haben schien. Bis ich in Schreie ausbrach: «Hören Sie auf damit, oder verschwinden Sie. Gehen Sie ihren Mund ausspülen am Klo; lösen Sie sich auf in der Mur … hier wird gelebt, Väterchen! Wir haben fürs Leben bezahlt, und nicht damit!»

 

Vergessenheit

 

Vergessenheit kann man erreichen, in dem man sich treiben lässt, führen lässt, fahren lässt inmitten von Frauen in Saris, und durch den Zug eilende Akrobatenjungs, die Tee an den Mann bringen – Männer mit Turbans – und entlang oder durch Flachländer mit Bäumen und Häuseransammlungen, die bestimmte Bilder von Landschaftsgemälden aus dem 17. Jahrhundert hervorrufen.

Bilder des niederländischen Malers Meindert Hobbema! Ich erinnere mich sogar noch an die Preise, die sie, den europäischen Zeitungen nach, bei internationalen Auktionshäusern einbrachten. Aber mit wem man hier auch über den niederländischen Maler sprach, da wurde reagiert mit Erwiderungen von Geschichten über Obama.

«Never mind», macht nichts: Man war hier jedenfalls in einer zeitlosen Welt gelandet.

Später dann, zu Hause – wo auch immer – kommen einem immer wieder die Teebeutel vor Augen, die bestimmte Passagiere über das eiserne Gitter der Lampen geschmissen hatten.

Letztendlich schläft man, auch manchmal stundenlang, auf dem höchsten der drei Betten, Aug in Aug mit dem Plafond.

In Peschawar habe ich damals – die Russen waren noch nicht in Afghanistan eingezogen – dann den Zug durch Belutschistan genommen, quasi unter Afghanistan durch, in den Iran. Wüste also, aber das ist nur ein Wort. Die vier einzigen Europäer fanden einander in einem Zugabteil und schwiegen über ihre bisherigen Erlebnisse, bis jetzt. Zum ersten Mal in meinem Leben, und vielleicht wohl auch zum letzten Mal, sah ich eine Fata Morgana. Ich hatte immer gedacht, dass dies ein «privat-psychologisches Geschehen» sein musste, aber als man mich fragte, was meine Aufmerksamkeit so verschlänge und mich schlucken machte, konnten auch die anderen noch bei Zeiten von diesem Naturereignis mitnaschen.

Achtzig Kilometer vor der Grenze zu Persien rettete mich ein «Mit-Bleichgesicht» vor zumindest einem unguten Teil meines Lebens, so wie ich es mir vorstellte. Mit seinen Augen wies er mich auf etwas hin, das hinter meinen Rücken geschah und zu gleicher Zeit mir als Schwert über dem Kopf hing. Mit schweigendem Mund deutete er darauf hin, sodass, was ich auch unternahm, die Vorsicht die Mutter der Porzellankiste ist und blieb.

Wie es auch war: Es hätte vorkommen können, dass jemand Schmuggelware in meiner Tasche versteckte, die mir unerwünscht ein Gefängnis von der Innenseite zeigen hätte können …

Und trotzdem befand ich mich schon zehn Monate lang umhüllt von einer Wolke aus Vergessenheit, es sollte dauern, bis ich nach Istanbul kam. Bis nach der Brücke über dem Bosporus selbstverständlich.

Vielleicht platzte diese Wolke auch wirklich erst auseinander, als ich in Europa auf einem Bahnsteig auf einen Zug wartete, der mich zu irgendeiner Art von Arbeit führen würde.

Plötzlich erklang in Graz die Nachricht, dass unser Zug acht Minuten Verspätung hatte, und ich erschrak, was mir schon lange nicht passiert war! Dabei hatte es sich in Neu-Delhi ergeben, dass wir acht Stunden hatten warten müssen – ohne Panik.