Wien 20. AllerheiligenplatzDichter Innenteil

Wiener Ausfahrten Nr.69

Zwischen der Donaueschingenstraße und der Hellwagstraße auf der einen sowie der Engerthstraße und der Nordbahnstraße auf der anderen Seite liegt ein altes Wiener Stadtviertel, das in einem ausgedehnten Park seinen Mittelpunkt findet. Der alte Name des Bezirks Zwischenbrücken leitet sich davon ab, dass dieser Teil Wiens zwischen Donaubrücken und den Brücken über den Donaukanal lag, der ja einst ein Donauarm war und bis vor nicht allzu langer Zeit auch für die zivilisationsbringende Frachtschifffahrt genutzt wurde. Auf einer verwitterten Tafel an einem alten Bürgerhaus, das heute einen katholischen Jugendverein beherbergt, lebt der Name Zwischenbrücken fort.Groll war, vom Böhler-Spital um die Ecke kommend, wo er einem ärztlichen Freund ein paar Flaschen Groß-Jedlersdorfer Titan vom Weingut Fuchs gebracht hatte, den Allerheiligenpark entlanggerollt und fand den Namen Zwischenbrücken auch heute noch passend. Entgegen seinen sonstigen Gepflogenheiten beschied er sich nicht mit der profanen Bedeutung des Wortes; er fand Gefallen an dessen metaphorischer Hülle. Ihm schien dieser Teil des zwanzigsten Wiener Gemeindebezirks nicht nur eine zwischen Brücken liegende Oase zu sein, sondern eine Wirklichkeit gewordene Zwischenwelt zwischen Neuer und Alter Welt, Orient und Okzident, dem sturmumtosten Poysdorf im ruhigen Weinviertel und dem ruhigen Neckenmarkt im stürmischen Mittelburgenland. Wesentlichen Anteil an der Zwischenwelt-Theorie des Allerheiligenplatzes hatte für Groll der weitläufige und mit Buschwerk, allerlei Niederholz und lichten Laubbäumen locker und großzügig bepflanzte Park. Die breiten und ausgetretenen Asphaltwege mit ihren robusten Holzbänken, deren gußeiserne Lehnen vom steten Gebrauch in der Sonne glänzten, fügten das ihre zum freundlichen Bild hinzu. Aber es war das vielfältige und bunte Leben im Park, das Groll so ungewöhnlich erfreulich für Wien erschien die große Zahl alter Menschen, die Frauen mit Kopftuch, die Männer mit Hüten, die ruhig und stetig von der alten Heimat an der Schwarzmeerküste oder an der Drina, vom Schulabschluss des Enkels oder von der drohenden Arbeitslosigkeit des Sohnes sprachen und die Tollheiten der quicklebendigen Kinder, deren Fußbälle, Skateboards und Fahrräder geduldig ertrugen und höchstens mit einer sparsamen Bewegung des Arms abwehrten.

Es war die Vielfalt an Leben inmitten städtischen Grüns, das Groll an die Parks von New York erinnerte. Nicht an den Central Park dachte er dabei der war ihm im Süden zu gebirgig und im Norden zu savannenhaft sondern an die vielen Parks am East River, zwischen Williamsboro- und Brooklyn-Bridge, wo die Einwanderer aus Latein- und Mittelamerika im Schatten fünfzigstöckiger kommunaler Wohnblocks Siesta halten, grillen und Feste feiern. Parks voller Leben, mit flirrendem Licht zwischen schmalen Blättern an schlanken Bäumen und überwältigendem Blick auf die Brooklyn-Bridge, die hoch oben von einer Parallelwelt kündet, die den Menschen im Park fremd ist, aber hingenommen wird wie der Straßenlärm des nahen Highways.

Auch am Allerheiligenplatz gibt es eine derartige Parallelwelt in den Sphären: der Milleniumstower mit seinen 200 Metern überragt mehrere Viertel von Gemeindebauten, Zinshäusern und kleinen Gewerbebetrieben. Ursprünglich waren dem Turm nur 140 Meter Höhe zugestanden worden, dass er gleich sechzig Meter höher wurde als geplant, rechnete Groll zu den städtischen Wundern und war für jeden zusätzlichen Meter dankbar, denn der Turm dient den Menschen zur Orientierung und gibt ihnen die Gewissheit, in einer Weltstadt und nicht in einer tristen Anhäufung von uniformen Straßenzügen zu leben.

In einem Fahrradgeschäft in der Nähe des Parks hatte Groll für seinen Rollstuhl einen Großeinkauf getätigt: fünf Ventilkappen um zwei Euro fünfzig. Der Verkäufer behandelte Groll entgegenkommend und erwies sich beim Aufschrauben der Ventilkappen als Meister seines Fachs. Erst nachdem er jede Kappe mit einem strengen Blick geprüft hatte, setzte er sie mit einer ruhigen und einzig richtigen Bewegung auf den Ventilschaft und drehte die Kappe mit zwei Fingern solange, bis sie fest aber nicht zu fest! saß. Auch die Qualität der Dienstleistung erinnerte Groll an New York. Als er sich beim Verkäufer nach einer Bankfiliale erkundigte, antwortete der mit großer Selbstverständlichkeit: Im Turm. Das solitäre Bauwerk war von den Menschen also längst in ihren Alltag integriert worden, der Turm war eine knappe Ortsbezeichnung wie der Wirt am Eck oder der Greißler in der Seitenstraße.

Langsam umrundete Groll den Allerheiligenplatz, immer wieder blieb er stehen und erfreute sich am Anblick des Parks und dem überragenden Turm. Schließlich war er vom Schauen so hungrig geworden, dass er den verlockenden Düften einer türkischen Bäckerei nicht widerstehen konnte und knuspriges Weißbrot, ein paar Stück Baklava, einen Batzen Schafskäse und eine Dose Oliven für eine Jause im Park kaufte.