Alles geht den Lomnitzbach hinuntertun & lassen

Roma in der Slowakei: Das Ende der Welt ist nah wie der Arlberg

Lomnicka im Nordosten der Slowakei hatte unmittelbar nach der «Wende» (1991) laut Volkszählung 78 Prozent Roma, zehn Jahre später, bei der neuerlichen Volkszählung, nur noch 7,45 Prozent. Die ältere Zählung kam der Wahrheit näher. Lomnicka besteht nämlich seit einigen Jahrzehnten zu 100 Prozent aus «Zigeuner_innen». Der Augustin besuchte ein Dorf der «Dritten Welt» — Fahrkartenpreis dorthin keine 30 Euro.

Foto: Willi Jenik

Die Ergebnisse von Volkszählungen sind verräterisch. Der Grad der systematischen Erniedrigung einer ethnischen Minderheit ist dem abzulesen, was die befragten Staatsbürger_innen als muttersprachliche Prägung angeben. In Staaten ohne Diskriminierung kommt es mitunter vor, dass mehr Menschen sich zur Minorität der Roma bekennen, als die Roma-Organisationen selbst als Volksgruppengröße angeben. Wenn Freiheit als jene gesellschaftliche Qualität bezeichnet wird, bei der das Anderssein geoutet und mit keinerlei Ängsten gelebt werden kann, ist es mit der Freiheit in der Slowakei nicht zum Besten bestellt.

In Lomnicka, diesem Dorf am Ende der Welt, von Wien etwa so weit entfernt wie der Arlberg, ist es mit nichts zum Besten bestellt. Mit der Freiheit nicht, mit der Infrastruktur nicht, mit dem Gemeinsam-Anpacken nicht, mit der katholischen Kirche nicht, mit der Bürgermeisterin nicht (der Vorwurf, dass sie mehr ihren Clan als das Dorfganze bedient, war bereits Gegenstand einer slowakischen TV-Doku), mit dem Umweltbewusstsein nicht, mit der Kanalisation nicht, mit der Hoffnung nicht, mit dem Car-Sharing nicht, mit der Verhütung nicht, mit der überlieferten Erinnerung an die Herkunft nicht.

Gut bestellt ist es bloß – man vergleiche Lomnicka mit den schrumpfenden Gemeinden des Waldviertels – mit dem Bevölkerungswachstum. Vor dem Zweiten Weltkrieg lebten 900 Leute im Dorf. Sie sprachen deutsch und nannten ihren Heimatort Kleinlomnitz. Heute leben 3000 Menschen in Lomnicka. Fast 2000 unter ihnen sind Kinder. Von den tausend Erwachsenen steht ein Drittel zu jeder Tageszeit (falls es nicht regnet) vor den heruntergekommen Häusern. Aber es trifft keinesfalls zu, dass die restlichen beiden Drittel einer Arbeit nachgehen. Wer Lomnicka als Adresse angibt, kriegt nirgends in der Slowakei einen normal bezahlten 40-Stunden-Job.

Extra Busstation für das «Gesindel»

Lomni?ka ist ein absolut garagenfreies Dorf. Das könnte positiv, als die gewünschte Antizipation der autolosen Zukunft gedeutet werden, wenn nicht der Stempel der absoluten Verwahrlosung auf jedem Quadratmeter des Dorfes zu sehen wäre – Utopie sieht anders aus! Vor nur ganz wenigen Häusern parken Autos, was aber überhaupt nicht bedeutet, dass die entsprechenden Familien automobil sind. Viele dieser Autos sind havariert und aus Geldmangel nicht reparierbar, andere könnten auf Touren gebracht werden, haben aber schon lang keinen Benzin mehr gerochen. Vom vier Kilometer entfernten, von «Weißen» bewohnten Städtchen Podolinec, wo es eine Bahnstation gibt, fährt ein Bus hinauf nach Lomnicka. Weil sie selbst die wenigen Cents für das Ticket nicht haben oder weil der Bus selten verkehrt (samstags und sonntags gar nicht!), gehen die Menschen diese vier Kilometer zu Fuß. Oft mit Brennholz auf der Schulter, das sie in entfernten Wäldern – notgedrungen gesetzeswidrig – gesammelt haben.

Podolinec verfügt über eine zentrale Bushaltestelle für Transporte in alle Richtungen. nur der Bus nach Lomnicka fährt nicht von hier weg. Die Bushaltestelle für die «Zigeuner» ist in die Peripherie des Städtchens verlegt worden. Menschen aus Lomni?ka, die oft mit schwerer (Kinder-)Last in die Bezirkshauptstadt unterwegs sind, können nicht einfach im Buszentrum von Podolinec in den anderen Bus umsteigen, sondern werden bei der «Zigeunerhaltestelle» ins Freie gesetzt und müssen zehn Minuten durch Podolinec wandern. Jeder «Weiße» aus Podolinec, jede «Schwarze» aus Lomnicka weiß, dass es sich dabei um eine Strafe ohne Straftat handelt – um eine reine Schikane gegen das «Gesindel».

Das Lebendigste in Lomnicka sind neben den Kindern die Hunde. Anderswo bereitet das Rumoren der Hähne, der Kirchenglocken oder der Müllabfuhr der Stille der Nacht ein Ende. In Lomnicka jaulen um fünf Uhr früh gefühlte tausend Köter auf. Man sieht übrigens kaum Hühner in Lomni?ka, kaum Hasen, kaum Ziegen und Schafe, keine Kühe (mit Ausnahme dreier jämmerlich dürrer Gestalten), keine Erdäpfelfelder, keine Obstbäume, keine Heilkräuter, die irgendwo in die Sonne zum Trocknen gelegt worden sind. Die Äste der Hollerstauden biegen sich, so schwer sind die prallen, reifen Holunderbeeren. Ich schätze, Holunderbeerenmarmelade ist hier unbekannt.

Hier ist der Augustin völlig unbekannt

Die allgemeine Apathie, die sich über das Dorf gelegt hat und die durch die gut begründete Hoffnungslosigkeit vor Auflösung geschützt ist, verhindert alles, was für einen Neustart nötig wäre. Sie macht, dass den Menschen die hundert Meter bis zu einem der drei Dorfbrunnen zu weit sind, sodass sie das Trinkwasser dem Lomnitzbach entnehmen, der durch ihr Dorf fließt und die Funktion einer Mistablagerungsstätte hat. Sie verhindert, dass aus dem Dorf Eigeninitiativen kommen, um die ersten Schritte hin zu einer Subsistenzwirtschaft zu unternehmen und so die Abhängigkeit von der staatlichen Sozialhilfe zu brechen (oder von den polnischen Händlern, die Kartoffel über die Grenze bringen). Zur ganzen Wahrheit gehört freilich, dass die Wiesen des Hinterlandes, einst Genossenschaftseigentum, privaten Wende-Gewinnern gehören und für Dorfleute unantastbar sind. Zur ganzen Wahrheit zählt wohl auch, dass die Roma gewaltsam abgetrennt worden sind von ihrer traditionellen Lebensweise und dadurch von früheren Kompetenzen. Ich habe gelesen, dass die Roma entlang ihrer Wanderrouten schon vor Jahrhunderten Erdäpfel an Orten gepflanzt haben, an denen sie zur Ernte im Herbst wieder vorbeikommen würden.

Die Apathie erfasst auch jene Jungen, die einen Moment lang Pläne schmieden, um aus dem Teufelskreis der Armut auszutreten und in den Städten ein anderes Leben zu beginnen. Die erfreulichste Episode in einer von der Religionsabteilung des ORF produzierten Lomni?ka-Dokumentation war das Interview mit einer jungen Dorfbewohnerin, die sich selbst die Kraft wünschte, aus der Passivität des Dorflebens auszusteigen und irgendwo anders – am liebsten als Lehrerin – Fuß zu fassen. Der Film ist nur ein paar Jahre alt. Die damals Interviewte hat sich, wie mir berichtet wird, den Gewohnheiten des Lomnicka-Lebens unterworfen. Sie hat bereits die ersten drei Kinder und nichts deutet mehr darauf hin, dass sie noch einmal die Energie aufbringt, ihrem Leben einen neuen Sinn zu geben. Ein Traum mehr geht den verseuchten Lomnitzbach hinunter.

In der kollektiven Depression dieses Dorfes in den Vorbergen der Hohen Tatra wächst nicht einmal ein Ausweg heran, der in anderen Romasiedlungen der Slowakei den Namen WIEN trägt. Niemand im Dorf konnte mir einen Bekannten nennen, der in Wien, wenige Autostunden entfernt, durch Betteln Geld verdienen konnte. Auch der Augustin ist in dieser Ecke der Armutswelt völlig unbekannt. Das sei zur «Beruhigung» all jener erwähnt, die eine «Flut» von osteuropäischen Armutspendler_innen nach Österreich an die Wand malen. In Wien sein Glück zu versuchen, das verlangt schon einen Plan, eine Bereitschaft, aus dem «Von-der-Hand-in-den-Mund-Leben» auszusteigen – Fähigkeiten also, die hier keinen guten Nährboden finden. Zurück in Wien konfrontiert mich eine Menschenrechtsaktivistin mit einer Denkweise, die die vermeintliche kollektive Apathie anders deutet: als «stille Revolte» gegen den westlichen Tempo- und Leistungsterror.

300 Euro monatlich für neun Menschen

Die einzigen, die sich in Europa halbwegs auskennen, sind die genialen Musikant_innen des Dorfs. Sie haben zwar noch nie einen westlichen Konzertsaal betreten, sondern bespielen die Fußgängerzonen Mitteleuropas, aber sie sind die einzigen, die nennenswert Geld verdienen. In einer neunköpfigen Familie, in der ich zum Mittagessen eingeladen wurde (namentlich zu Erdäpfelpürree mit Fleischlaberl und Gurkensalat), fehlen die Musiker_innen. Die Familie muss daher mit knapp 300 Euro Sozialunterstützung im Monat auskommen.

Und dennoch ist der Untergang von Lomnicka nicht irreversibel. Aber die Initiative muss aus dem Inneren der Community kommen, davon sind auch die zwei Wiener überzeugt, die eine NGO aufzubauen versuchen (siehe Kasten). Ein Volk, das man niemals so leben ließ, wie es wollte, hat tiefe Wunden. Aber die ersten Gebildeten, die aus Lomnicka stammen, könnten Wunder bewirken. Sie könnten Jugendliche dafür begeistern, die Sanierung des Baches in Angriff zu nehmen. Sie könnten eine Fußballschule eröffnen, sie könnten die musikalischen Talente auf vielfältige und zeitgenössische Arten fördern, sie könnten landwirtschaftliche Kompetenzen generieren, indem sie Vorbilder der Eigeninitiative und der Selbstvermarktung ins Dorf holen. Keine Hollermarmelade der Welt würde besser schmecken als die vom Marmelade-Frauenkollektiv von Lomni?ka.