Der Kontrolleur & der Anarchisttun & lassen

«Wie ich zu einem gerichtlich beglaubigten Schläger wurde»

Muss man brav sein, wenn man in eine Razzia der Fahrscheinkontrolleur_innen gerät? Kann man das nicht auch entwürdigend finden? Zugegeben, Albert Birson verhielt sich nicht sehr angepasst. Aber rund 6000 Euro zahlen – das geht zu weit. Von Robert Sommer.

Foto: Lisa Bolyos (F13-Aktion im Jahr 2012)

«Man hört, ihr seid eine Zeitung, die für Menschen Partei ergreift, denen Unrecht geschieht, weil sie von der Wiege an nicht zu den Gewinnern zählen», sagt Albert Birson. Wir bestätigen seinen Eindruck umgehend. «Deshalb werdet ihr mir eine Chance geben, die Geschichte einer Fahrscheinkontrolle so darzustellen, wie sie wirklich passiert ist.» «Wir hören uns die Geschichte einmal an», lautet die Antwort. Möglicherweise wundert sich Albert Birson über unsere Skepsis; die ist aber angebracht, denn die Version der Unterlegenen, denen unsere Sympathie gehört, muss nicht unbedingt die wahre sein.

Die Geschichte zieht sich seit Ende April 2015 durch sein Leben. Sein Ruhestand – seit kurzem ist der gelernte Kühlmaschinenmechaniker und EDV-Analytiker in Pension – könnte ruhiger sein, wenn es diese verfluchte Schwarzkappler_innenkette (ohne schwarze Kappen) in der U-Bahn-Station Vorgartenstraße nicht gegeben hätte. Albert könnte sich mehr um seine Pensionistenaufgaben kümmern: erstens mitzuhelfen, dass die Anarchistische Bibliothek, für die er sich stark engagiert, einen neuen Raum findet; zweitens mitzuhelfen, einen subkulturellen Keller zu revitalisieren: den Perinetkeller in der Brigittenau. Dort habe ich ihn kennengelernt; vielleicht handelt es sich um ein Vorurteil, aber ich kann mir schwer vorstellen, dass Albert, der sanfte Anarcho-Rentner, ein Schläger sein soll, der einen Kontrolleur, 50 Kilo schwerer und einen Kopf höher als er, so schwer verletzt hat, dass dieser drei Wochen lang in den Krankenstand musste.

Die Richterin indessen konnte sich das gut vorstellen, zumal das «Opfer» Daniel S., Kontrollorgan der Wiener Linien, einen seine Aussagen unterstützenden Augenzeugen zur Verfügung hatte, der – so ein Zufall – ebenfalls bei den Wiener Linien beschäftigt ist. Der «Täter» konnte keine Zeuge_innen ins Treffen führen, weder echte noch instrumentalisierte. Das Urteil des Bezirksgerichtes Leopoldstadt, ein Jahr nach dem Vorfall: Albert Birson hat das Kontrollorgan vorsätzlich am Körper verletzt. Albert schreibt mir fünf Beträge auf. Die Summe beträgt rund 6000 Euro. So viel soll er zahlen. Der größte Posten ist die Lohnfortzahlung für die Dauer des Krankenstands, der zweitgrößte die Gerichtskosten, der drittgrößte das Schmerzensgeld. Eine letzte Entscheidung wurde bei Redaktionsschluss noch nicht getroffen.

Die Geschichte, aus Alberts Sicht erzählt: U1 Vorgartenstraße, Aufgang Mexikoplatz. Fahrscheinkontrolle durch eine Gruppe von Kontrollorganen der Wiener Linien. Albert Birson verfügt über eine Jahresnetzkarte. Sie steckt an diesem Tag in einem Kuvert. Er sucht nach ihr, bleibt aber nicht stehen. Geht weiter Richtung Ausgang. Findet schließlich die Karte und bleibt nun stehen, noch vor dem Ausgang. Weist die Karte vor, aber das Kontrollorgan reißt sie ihm aus der Hand. Baut sich drohend vor dem Jahreskartenbesitzer auf. Albert ist nicht auf einen Wickel aus, setzt seinen Weg zum Ausgang fort; die Karte hat das Kontrollorgan, aber Albert weiß, er kriegt jederzeit eine neue. Plötzlich spürt er, dass ihn wer an der Schulter festhält. Das Kontrollorgan. Gegen körperliche Attacken sollen auch so manche Nicht-Anarchist_innen allergisch sein. Albert schreit den Mann an. Nun fängt auch die verkörperte Wiener Linie zu schreien an. «Er hat mich geschlagen! Er hat mich geschlagen!» Eine halbe Stunde nach dem Vorfall wird im Lorenz-Böhler-Krankenhaus beim beamteten «Opfer» eine leichte Schwellung und eine beginnende Blutunterlaufung festgestellt.

Ein Jahr später kommt heraus, dass niemand wirklich weiß, wo sich die Schwellung befand. Am linken Knie? Am rechten Knie? Am linken Oberschenkel? Am rechten Oberschenkel? Und mit welchem Körperteil soll Albert Birson «zugeschlagen» haben? Mit dem Knie? Mit dem Rist? Mit dem Fuß? Alle Versionen tauchen während des Verfahrens auf. Kein Wunder, dass der «Täter» für sich folgenden Schluss zieht: Drei Wochen Krankenstand für eine Verletzung, deren Verortung nicht mehr klargestellt werden konnte, riecht sehr nach Arbeitsverweigerung und Erschleichung von Schmerzensgeldern.

Schließlich erzählt mir Albert Birson eine andere Geschichte. Eines Tages hört er, als er eine Rolltreppe hinunterfährt, zwei Frauen, die wunderbare Musik machten: Gitarre, Maultrommel und Gesang. Albert bleibt stehen, um zuzuhören. Eine U-Bahn nach der anderen fährt ohne ihn weiter. «Doch dann wird’s grauslich: Die Ordnung betritt die Bühne!», erklärt Albert. Hier finde eine Störung der Fahrgäste statt, diagnostizieren die Wächter der guten Sitten. Er stehe schon lange da, und niemand hätte sich gestört gefühlt, wendet Albert ein. Die ­Sheriffs sind nicht beeindruckt. Sie beenden das Konzert, Befehl sei Befehl. Wie schön wäre die Stadt, wenn die Ordnungshüter_innen ausschließlich das bekämpfen würden, was man laut bürgerlichem Gesetzbuch nicht tun darf. Musik machen und um Spenden dafür zu bitten, das hält jede Bevölkerung aus. «Die Stadt gehört dir», singen Kinder in einem PR-Video der Wiener Linien. Albert Birson hat manchmal den Eindruck, die städtischen Verkehrsbetriebe haben damit nicht die Benützer_innen gemeint.