«Der Staat bricht auf»tun & lassen

Der Zaun um den Garten, das Handtuch am Badesee, das meinen Liegebereich markiert, der Rain zwischen zwei Feldern – ist das Ziehen von Grenzen Teil der menschlichen Existenz?

Meiner Meinung nach ja. Ich glaube, dass es zum Menschen gehört, sich Räumen zuzuordnen und von anderen abzugrenzen.

Ob und für wen Grenzen durchlässig oder dicht sind, hängt ja nicht zuletzt von ökonomischen Interessen ab?

Ich denke, dass politische Grenzen immer mit ökonomischen Interessen verbunden sind. Im Europa des Mittelalters gab es zunächst keine Freizügigkeit. Die meisten Menschen waren an das Herrschaftsgebiet des Grundherren gebunden. Mit einsetzender Industrialisierung und Urbanisierung im 19. Jahrhundert kam es zum Konflikt um Arbeitskräfte. Die einen wollten, dass sie am Feld zur Verfügung stehen, die anderen, dass sie Straßen- und Bahnlinien bauen und in den Fabriken arbeiten. Der Staat gestattete daher die Freizügigkeit, er ließ zu, dass die Menschen in die Städte und entstehenden Industriegebiete wandern. Hinter dieser neuen Freizügigkeit stand also ein konkretes ökonomisches Interesse. Gleichzeitig wollte der Staat aber nicht, dass Geld und Arbeitskraft unkontrolliert ins Ausland abfließen. Die Arbeitskraft der Untertanen ist ja die Glückseligkeit des Staates. Grenzen kontrollierten daher Zu- und Abwanderung und generierten Einkünfte durch Ein- oder Ausfuhrzölle.

Staaten definieren sich über ein durch Grenzen abgestecktes Territorium, auf dem sie etwa die Kontrolle über Wirtschaft, Soziales und Bildung ausüben. Die damit verbundenen Gestaltungsmöglichkeiten scheinen aber zusehends verloren zu gehen. Der Staat lagert Aufgabenbereiche an private Dienstleister aus. Kann man von einer Entmachtung des Staates sprechen?

Der typische Staat bricht seit einiger Zeit auf. Etwa im Bereich Infrastruktur, wo ja die Post und die Bahn zunächst staatliche Monopole waren. Inzwischen aber haben private Firmen, wie etwa die Westbahn, Teile dieser staatlichen Dienstleistungen übernommen. Wobei klar ist, dass das keine flächendeckende Lösung sein kann, da die Westbahn ja nur lukrative Strecken befährt, nicht aber Nebenstrecken mit geringem Personen- und Güterverkehr. Da bricht also die Staatlichkeit in ihrer flächenmäßigen Form auf. Der Staat verliert an Zugriff, andere Instanzen treten auf. Andererseits kann der Staat diese Unternehmen besteuern und über diese Einnahmen seine Staatstätigkeit entfalten. Ich sehe den Staat daher nicht als entmachtet. Vielmehr entscheidet er sich ja bewusst, wenn auch im Sinne eines kapitalistischen Systems, die Kapitalverwertungsbedingungen zu gewährleisten. Unter den Bedingungen globaler Güterkettenproduktion bedeutet dies vor allem freien Waren- und Kapitalverkehr zu ermöglichen und in Krisen neue Geschäftsfelder zu eröffnen. Daher erfolgt diese Privatisierung und Auslagerung an Private.

Wie ist denn vor diesem Hintergrund der Wunsch nach Grenzenlosigkeit einzuschätzen, wie er sich im Slogan «No Border, no Nation!» verdichtet?

Es liegt natürlich auf der Hand, gegen den Festungscharakter der EU zu argumentieren, der dazu dient, eigene Privilegien abzusichern. Aber ich sehe auch eine ganz große Verwirrung unter jenen Linken, die sich gegen jede Form politisch kontrollierter Grenzen stellen. Denn die politische Forderung, Grenzen niederzureißen und Nationen zu bezwingen, befördert ja nicht zuletzt die Interessen des Kapitals nach Freizügigkeit der Lohnarbeiter und damit verbunden nach billigen Arbeitskräften und einer damit einhergehenden Deregulierung am Arbeitsmarkt. Vor diesem Hintergrund bin ich für Begrenzung. Aber nicht im Sinne der Festung Europa, sondern im Sinne von einem Vorrang für lokale Lebenszusammenhänge.

Ich denke nicht, dass wir die Welt retten, wenn wir nur genug Flüchtlinge aufnehmen. Meiner Meinung nach lässt sich die Welt nur retten, wenn diese Menschen, dort wo sie herkommen, auch ein Auskommen haben.

In Ihrem Buch steht zu lesen, dass im jordanischen Zaatari-Flüchtlingscamp den Menschen beim Einkaufen die zu bezahlende Summe mittels Iris-Scan von ihrem elektronischen Konto abgebucht wird. Ein Testfeld für biometrische Grenzkontrollen, wie sie vermuten?

Man nutzt diese Menschen, um zu schauen, was möglich ist. Wenn etwas im Supermarkt klappt, kann ich das auch bei der Passkontrolle einsetzen. Es geht konkret darum, Mobilität von Menschenmassen zu kontrollieren, zu kanalisieren, Instrumente zu schaffen, mit denen ich auswählen kann, wen ich wohin lasse oder wieder zurückschicke. Daran verdienen auch alle möglichen Branchen, da ja eine Menge infrastruktureller Maßnahmen, wie Unterbringung oder Notversorgung, gebraucht werden. UNHCR muss die notwendige Ausrüstung dafür irgendwo kaufen, ist daher den Angeboten ausgesetzt. Aber in gewisser Weise wird UNHCR zum Agenten der Firmen, die umso mehr Geschäft machen können, je mehr Flüchtlinge es gibt. Daher sehe ich die Hilfsindustrie als Teil des Problems und nicht als Teil der Lösung.

Kommen wir zurück zur EU und zu ihren Binnen- und Außengrenzen. Ist die EU als grenzenloser Raum Realität?

Wenn man so will, ja, denn der Ausdehnung der EU ist ja kein definitives Ende gesetzt. Es sagt ja niemand, sie reiche bis zum Ural oder bis zum Bosporus. Nein, die EU schließt potenziell auch den Maghreb ein und alle, die bereit sind, die Kriterien für einen Beitritt zu erfüllen. Die EU definiert sich daher nicht als beschränktes Territorium in der Welt, sondern als Kern mit abgestuften Mitgliedern und mit Erweiterungspotenzial. Insofern umgibt sich die EU immer wieder mit einem neuen Kreis an Beitrittswilligen, die irgendwann, vielleicht auch nie, beitreten. In ihrer Warteposition übernehmen diese Staaten Vorfeld-Kontrollfunktionen. So haben wir etwa an Maghreb-Staaten alle möglichen Funktionen ausgelagert, genauso an die Türkei, wissend, dass das mit dem hehren Gerede über die Standards der EU nicht vereinbar ist. Auf diese Weise macht man sich nicht selbst die Hände schmutzig.

Bei den Binnengrenzen zeigt sich, dass sie nur bei Sonnenschein außer Kraft gesetzt sind. Das haben aber die meisten nicht wahrgenommen, die als Touristen hin und her geströmt sind und dachten, es gäbe keine Grenzen. In Wirklichkeit gibt es Bevölkerungsgruppen, die die Binnengrenzen immer erlebt und ertragen haben. So können diese Grenzen bei Fußballspielen hochgezogen werden, oder bei internationalen Großdemos für jene, die aus politischen Gründen überwacht werden.

 

Andrea Komlosy: Grenzen

Räumliche und soziale Trennlinien im Zeitenlauf

Promedia 2018, 248 Seiten, 19,90 Euro