Die Folgen der Diktatur für ein Sozialprojekt und seine Menschentun & lassen

So starb das Settlement

Von London aus verbreitete sich die Idee der Settlements Nachbarschaftszentren in Armenvierteln auch nach Wien. Zwischen Jahrhundertwende und Zwischenkriegszeit, siehe Ausgabe Nr. 149, fungierte das Ottakringer Settlements als eine Art frühe NGO, wie wir heute sagen würden, für Obdachlose und andere VerliererInnen. Der Folgetext behandelt die Demontage des Sozialprojekts durch die Nazis. Das Aus kam für das Settlement, wie für so viele andere Vereine mit der Machtübernahme der NationalsozialistInnen im März 1938. Die so genannte Stilllegung der Vereine sozialdemokratische Vereine und die Gewerkschaften waren bereits nach den Februarkämpfen von 1934 verboten worden, die KommunistInnen bereits im Mai 1933 begann wenige Tage nach dem Anschluss. Neben der Sicherung des Vermögens österreichischer Organisationen sollte mit dem Auslöschen eines eigenständigen österreichischen Vereinslebens auch jede abweichende Meinungsbildung ausgeschaltet werden. Von den Nationalsozialisten eingesetzte so genannte Stillhaltekommissare hatten die Aufgabe, dafür zu sorgen, dass alle Vereine, Organisationen und Verbände nationalsozialistisch ausgerichtet oder aufgelöst wurden. Viele Sozialeinrichtungen wurden, vor ihrer zwangsweisen Auflösung (bzw. Arisierung, wenn es sich um Eigentum von Jüdinnen und Juden handelte), einem so genannten kommissarischen Leiter / einer kommissarischen Leiterin unterstellt, ohne dessen Einwilligung nichts mehr unternommen werden durfte.

Dies geschah auch im Settlement. Bereits am 17. März, wenige Tage nach dem Anschluss, kam es zu einer ersten Besprechung mit dem kommissarischen Leiter. Am Tag zuvor war im Settlement die Arbeitsleitung umgebildet worden. Anstatt Else Federn wurde nun die langjährige arische Mitarbeiterin Helene Löhr zur Arbeitsleiterin ernannt und die langjährigen Mitarbeiterinnen Irene Seyss-Inquart und Marianne Prokorny wurden zu Stellvertreterinnen ernannt. Am nächsten Tag stellte sich ein Herr Seky, der Leiter eines Kinderheims im 16. Bezirk, als Vertrauensmann der NSDAP und kommissarischer Leiter des Settlement vor.

Von den SettlementmitarbeiterInnen wurde der Umfang dieser Machtübernahme offensichtlich nicht sofort in ihrem ganzen Ausmaß erkannt, bezeichnete Helene Löhr in ihrem Protokoll des Treffens Seky doch als kommissarischen Leiter der Erziehungsarbeit. Vorerst ordnete Seky an, dass die Arbeit im vollen Umfang weiterzuführen sei. Die Aussonderung von Jüdinnen und Juden begann jedoch sofort. Sie durften nicht mehr mit Kindern arbeiten, oder wie es formuliert wurde auf Kinder Einfluss nehmen.

Rechte Gesinnung wichtiger als Kompetenz

Zugleich bat Seky Else Federn, sich nicht ganz von der Arbeit zurückzuziehen, sondern mit ihrer reichen Erfahrung zu helfen. Bei Anpöbelungen sollte unter Berufung auf Seky das Überfallkommando gerufen werden. Die Furcht vor gewalttätigen Übergriffen war begründet. Anfragen der Hitlerjugend wegen eines Raumes im Settlement waren bereits erfolgt und mussten laut Seky nur dann stattgegeben werden, wenn dies ohne Störung der eigenen Arbeit erfolgen konnte.

Doch schon am nächsten Tag war alles anders. Die Sportgruppe des Settlements wurde aufgelöst und stattdessen eine Sportgruppe der SA ins Settlement einquartiert. Vier SA-Männer waren kurz vorher im Settlement erschienen und hatten einen Raum für sich verlangt. Die Mütterabende mussten bei der Führerin der NS-Frauenschaft der Ostmark Else Muhr-Jordan gemeldet werden. Insgesamt arbeiteten im Settlement zu diesem Zeitpunkt ganztags oder stundenweise 19 Personen (16 Frauen und 3 Männer) und im Jugendheim 8 Personen (4 Frauen und 4 Männer). Im Juni stellte Helene Löhr in einem Schreiben an die Vereinspräsidentin ihre Position als Arbeitsleiterin zur Verfügung. Darin schlug sie eine Kindergärtnerin des Settlements als Nachfolgerin vor, die seit 1929 mitarbeitete und bereits jahrelanges NS-Mitglied war. Diese Frau würde das Vertrauen der Partei genießen: Es handelt sich ja jetzt viel weniger darum, sehr viel Fachwissen zu haben als eben die Gesinnung, so Löhr.

Die Neuernennung einer Arbeitsleiterin erübrigte sich jedoch, denn zum 1. Juli 1938 wurden die MitarbeiterInnen gekündigt. Der Verein wurde zum 31. Juli liquidiert. Vereinzelt gingen die Arbeiten des Settlements jedoch weiter. Die von Marianne Prokorny erstellten Führungsberichte für die Jugendgerichtshilfe datieren bis Mitte September 1938. Auch hier sind die Spuren des neuen Terrorregimes abzulesen. So heißt es in einem Führungsbericht vom August 1938: Der Minderjährige Walter Verunac ist seit einigen Wochen in Dachau. Die Kindsmutter ist sehr unglücklich und kann sich gar nicht erklären, wieso es dazu kam, behauptet, er habe sich niemals politisch betätigt.

Else Federn verlor ihr Lebenswerk

Und wie erging es den gekündigten MitarbeiterInnen des Settlements? Wie verlief ihr weiteres Leben? Was geschah mit den jüdischen Mitarbeiterinnen? Marie Kornfeld, geboren 1899 in Eisenstadt, mosaischer Konfession, getrennt lebend und Kassaverwalterin und Buchhalterin im Settlement seit 1922, gelang, so wie Gertrud Goldschmid mit ihrem Mann, die Flucht nach England. Hedwig Quaster, geboren 1902 und konfessionslos, die in der Bücherei mitgearbeitet hatte, flüchtete mit ihrem Mann nach Argentinien. Der 53-jährigen Fürsorgerin Adolfine Lemberger gelang die Flucht nicht. Sie hatte seit 1930 im Settlement in der Schulnachhilfe, im Büro und bei den Recherchen für die Jugendgerichtshilfe gearbeitet. Das im Juni 1938 vom Settlement ausgestellte Zeugnis betonte ihre Fähigkeiten, mit schwer erziehbaren und behinderten Kindern umzugehen. Vier Jahre später, im August 1942, wurde Adolfine Lemberger nach Minsk deportiert und dort ermordet.

Der Tatsache, dass von Else Federn Briefe in Abschriften erhalten geblieben sind, ist es zu verdanken, dass über ihr Leben nach der Zerstörung des Settlements mehr bekannt ist. Die Briefe an ihre Mitarbeiterin Marianne Prokorny vermitteln einen berührenden Einblick in die Gedanken und Gefühle einer 64-jährigen allein stehenden, vertriebenen Frau, deren bisheriger Lebensinhalt die Arbeit im Ottakringer Settlement gewesen war.

Else Federn verlor mit der Machtübernahme der NationalsozialistInnen nicht nur ihr Lebenswerk, sondern es wurde auch ihre Familie in alle Weltgegenden zerstreut. Sie selbst floh im Herbst 1938 nach England, wo sie zunächst bei einem Bruder und dessen Ehefrau Unterschlupf fand. Gleich nach ihrer Ankunft setzte sie sich mit englischen SettlementfreundInnen und den Quäkern in Verbindung. Trotz der liebevollen Aufnahme litt sie sehr an Heimweh, wie aus einem Brief kurz vor Weihnachten 1938 deutlich wird: Womit soll ich meinen Brief beginnen. Dir sagen, wie sehr ich in Gedanken in Wien und mit den Freunden bin, so stark, dass ich sie manchmal körperlich nahe glaube und mich umwende und ins Leere schaue …

Else Federn pflegte Kontakte zu anderen Flüchtlingen aus Österreich und bemühte sich für Wiener FreundInnen um Einreisebewilligungen nach England und Kanada. Ende März 1939 übersiedelte sie in das University Settlement nach Bristol, doch sie litt nicht nur unter der Entwurzelung, sondern auch an der erzwungenen Untätigkeit. Mit Wehmut dachte sie an all die unvollendeten Pläne, die sie mit FreundInnen für das Settlement geschmiedet hatte: Du Liebe, wie oft denke ich unserer Spaziergänge und unserer Pläne. Wie anders ist alles geworden!

Else Federn erlebte zwar das Kriegsende noch, doch war es ihr nicht mehr möglich, nach Wien und an ihre heiß geliebte Arbeitsstätte zurückzukehren. Sie erkrankte im Sommer 1945 und starb im Settlement in Bristol am 28. Jänner 1946 mit 71 Jahren. Im Oktober 1946 fand im Namen des wiedererstandenen Vereins Settlement in Wien im Volksheim am Ludo-Hartmann-Platz eine Gedenkfeier an Else Federn statt.

Info:

Elisabeth Malleier ist Historikerin und Autorin von Jüdische Frauen in Wien 18161938, erschienen 2003 im Mandelbaum Verlag. Die Erforschung der Geschichte des Ottakringer Settlement wurde ihr durch die finanzielle Unterstützung der MA 7 ermöglicht.

teilen: