Wem gehört der öffentliche Raum?tun & lassen

Die Jagd auf den Zettelpoeten Seethaler wirft eine Frage auf

Wie nennt man in der Sprache Brechts eine Justiz, die Helmuth Seethalers Zettelgedichte sowohl als öffentliches Ärgernis als auch als Verkehrssicherheitsstörung verfolgt und die Aufdringlichkeit der kommerziellen Rolling Boards für stadtgemäß hält?Welcher Wiener kennt sie nicht, die Gedichte zum Pflücken des Wiener „Zettelpoeten“ Helmuth Seethaler? Seit vielen Jahren meldet sich der unangepasste Individualist in der Öffentlichkeit zu Wort: in U-Bahn-Stationen, Fußgänger-Passagen, auf Einkaufsstraßen, kurz – überall dort, wo sich viele Menschen aufhalten oder vorübereilen. Seethaler versteht sich als Dichter. Er schreibt Kurzgedichte, Wortspiele, Aphorismen. Natürlich möchte er seine Gedichte unters Volk bringen, nur – Seethaler wendet sich nicht an Verlage, sondern direkt an seine Rezipienten: Er verschenkt seine Gedichte auf der Straße. Dutzendweise appliziert er die fahrscheingroßen Zettel an Zäune, Bäume, Baugitter, Säulen, Wandverkleidungen, wo sie neugierige Menschen sehen, lesen und gegebenenfalls eben auch „pflücken“ können, so wie man einen reifen Apfel direkt vom Baum pflückt, wenn man Gusto verspürt. Durch seine Tätigkeit im öffentlichen Raum wurde Seethaler zum „Täter“. Seit Jahren halten ihn bestimmte Abteilungen der Wiener Stadtverwaltung für ein Ärgernis, das es zu bekämpfen gilt. Meist war in den Anzeigen von „Störung der öffentlichen Ordnung“ oder von „Sachbeschädigung“ die Rede. Dabei hat der Straßendichter eine bemerkenswerte Technik entwickelt, um gerade letzteren Vorwurf zu entkräften: Ein Selbstklebeband wird mit der Klebeschicht nach außen um Säule oder Gitter gewickelt oder zwischen zwei nahe stehende Bäume gespannt und die Zettel daran geheftet, sodass alles nach beendeter Aktion rückstandsfrei beseitigt werden kann.

2528 Mal wurde Seethaler angezeigt, und jedes Mal hat der Dichter dagegen berufen. In 2521 Fällen haben die Richter des Unabhängigen Verwaltungssenates (UVS) dem Vorwurf der Anzeigenden nicht stattgegeben und die Aktionen als „Kunstausübung“ akzeptiert. Helmuth Seethaler war quasi „gerichtlich anerkannter Zettelpoet“.

Seit Juni 2004 ist alles anders. Hängt das damit zusammen, dass Seethalers Sprache subversiver geworden ist? Dass er mit seinen Aphorismen zur Wirklichkeit vordringt? Mit Sätzen wie „“je mehr dinge vom denken ablenken, umso lenkbarer werden wir für die dingeerzeuger“…“? Helmut Seethaler wird nach einer Aktion vom 4.6.2004 um 22.20 Uhr auf der Wiener Kärntner Straße angezeigt und verurteilt.

Die Ordnung rücksichtslos gestört

Wie schon hunderte Male zuvor legt er gegen das Urteil beim UVS Berufung ein, -doch diesmal wird dieser „keine Folge gegeben“. Seethaler hat das Wiener Landessicherheitsgesetz und das Sicherheitspolizeigesetz übertreten; amtlich wird ihm beschieden. Er habe „dadurch, dass Sie zwischen zwei dort befindlichen Bäumen über eine Länge von 10 m ein braunes Klebeband (mit Gedichtzetteln) in der Höhe von 1,50 bis 1,80 Meter anbrachten, ein Verhalten gesetzt, welches geeignet war, Aufsehen und Ärgernis zu erregen, und haben dadurch die Ordnung an einem öffentlichen Ort besonders rücksichtslos gestört“. Wegen dieser Verwaltungsübertretung wird er zu einer Geldstrafe von 70 Euro oder 70 Stunden Ersatzfreiheitsstrafe verurteilt. Das war aber noch nicht alles. Zwei Polizisten haben den Dichter mit den Worten: „Scheiß Künstler, ram weg den Dreck!“ aufgefordert, seine Zettel abzunehmen. Als dieser der Aufforderung nicht nachkam, schritten die Amtsorgane zur Tat und schnitten mit einem Messer die Klebestreifen durch.

Sich dadurch bedroht fühlend rief der Künstler laut: „Hilfe, Hilfe, Polizei!“, was natürlich von der anwesenden Exekutive als Provokation aufgefasst wurde. Dieser „ungebührlicherweise störende Lärm“, es war ja fast halb elf Uhr in der Nacht, -kostete Herrn Seethaler weitere 70 Euro oder 70 Stunden Ersatzfreiheitsstrafe (zuzüglich 28 Euro Verfahrenskosten). Wohlgemerkt: Wegen der beschriebenen Aktion muss man in Österreich 6 Tage ins Gefängnis!

Wem gehört der öffentliche Raum? Der Gemeinde Wien? Der Firma Gewista? Oder uns allen? Ist das vorübergehende Aufspannen von Klebebändern zwischen zwei Bäumen gefährlich? Stört es wirklich nachhaltig die öffentliche Ordnung? Ist es überhaupt verboten? Das nachweislich gesundheitsschädliche und die Öffentlichkeit beeinträchtigende und deshalb auch verbotene Freisetzen von ca. 10 Tonnen Hundekot täglich auf Wiens Straßen wird bekanntlich nicht geahndet, weil dies politisch nicht opportun erscheint. Man stelle sich den medialen Aufschrei vor, wenn ein beim nachlässigen Gassigehen ertappter Hundebesitzer wegen „ungebührlichen Verschmutzens des Gehweges“ drei Tage ins Gefängnis müsste …

Worin bestand Seethalers Vergehen? Er hat sich im öffentlichen Raum ohne amtliche Genehmigung und ohne eine Abgabe zu entrichten den Menschen in den Blick gestellt – im Namen der Kunst und ohne ernsthafte kommerzielle Absicht und Aussicht. Zugegeben, auf eine ungewöhnliche, aber sehr persönliche und harmlose Art. Aber sehen wir uns doch einmal um in Wien, schärfen wir einmal für einen kurzen Augenblick die Wahrnehmung im öffentlichen Raum. Was drängt sich tagtäglich unserem Blick auf, aufdringlich im Sinn des Wortes, unausweichlich und unübersehbar? Wir sind verfolgt und eingekreist von Werbung auf psychologisch höchstem und in seiner Wiederholung geradezu aggressivstem Niveau. Aber im Gegensatz zu Seethalers harmlosen „Denk-Zetteln“ und Appellen, etwa zu bewusstem Konsumverhalten, geht es hier um massive wirtschaftliche Interessen.

Was als weltkulturerbetauglich durchgeht

Schon vor mehreren Jahren hat man unter dem Vorwand der „erhöhten Sicherheit während der Nachtstunden“ fast alle Wartehäuschen der Wiener Linien mit selbst leuchtenden Plakatflächen ausgestattet, die dem wartenden Fahrgast die Zeit mit Werbung verkürzen sollen. Seit knapp zwei Jahren hat die Stadt Wien auf diesem Gebiet einen weiteren Quantensprung vollzogen und für die Zielgruppe „Autofahrer“ ein in anderen europäischen Großstädten längst eingeführtes Werbemittel importiert: Die so genannten „Rolling Boards“. Die Wiener Stadtverwaltung hat der inzwischen privatisierten Firma Gewista die Erlaubnis erteilt, im Wiener Stadtgebiet ca. 300 Riesenmonitore aufzustellen. Natürlich nicht dezent irgendwo im Hintergrund, sondern mitten im öffentlichen Raum. Zur Steigerung des Werbeeffektes stehen diese leuchtenden Großplakate, die noch dazu alle 10 Sekunden weiter bewegt werden, von Werbepsychologen strategisch platziert, genau an solchen Punkten, wo die Autofahrer mit erhöhter Aufmerksamkeit fahren müssen: unmittelbar vor oder hinter Kreuzungen, in Kurven, neben Fahrbahnverschwenkungen.

Letzte Errungenschaft der Konsumvermittler sind die als Litfassäulen getarnten Rolling Boards auf der Wiener Ringstraße. Die runden und alle 10 Sekunden eine halbe Drehung vollführenden verglasten Plakatwände wurden offensichtlich als weltkulturerbetauglich abgesegnet (die Großbildmonitore wären in diesem Ambiente vielleicht doch als befremdlich aufgefallen). Der Werbeeffekt wird vor allem nachts wirksam. Wenn sich plötzlich im Dunkeln ein leuchtendes Bild bewegt, sind wir von der Evolution darauf getrimmt, mit voller Aufmerksamkeit hinzuschauen. Wir können den Blick gar nicht abwenden – es könnte ja Gefahr bedeuten! (Erleichtert stellen wir fest, dass es sich nicht um ein Raubtier sondern nur um ein neues Klopapier handelt …) Warum findet sich kein Verkehrsjurist, der die Beseitigung dieses flächendeckenden Ärgernisses im der Allgemeinheit gehörenden Stadtbild einklagt?

Für mich ist das Aufstellen der Rolling Boards ein „Verhalten, das Ärgernis erregt und die Verkehrssicherheit und Ordnung an öffentlichen Orten besonders rücksichtslos stört“.

Es ist paradox: Der Wiener Zettelpoet wurde bestraft, weil er im öffentlichen Raum unspektakulär und wahrscheinlich von vielen belächelt, kritische Aufmerksamkeit den Ressourcen und der Umwelt gegenüber sowie bewusstes Konsumverhalten, Unangepasstheit, Solidarität und Bescheidenheit verkündete. Dabei appellieren seine Gedichte an nichts anderes als an jene „christlichen und europäischen Werte“, vor deren Verlust immer wieder in diversen Sonntagsreden eindringlich gewarnt wird.