Zuerst die Federn, dann das Strohtun & lassen

Die Niederösterreicherin Ingrid W. wehrt sich gegen Abschub ihres Schützlings

Als Kind sah Ingrid W. ungarische Kinderflüchtlinge in ausrangierten Eisenbahnwaggons leben. Nach dem Erntedankfest 2015 nahm die pensionierte Lehrerin einen jungen irakischen Flüchtling auf, der im Juli abgeschoben wurde. Nun besucht sie ihren Schützling in der Schubhaft im «Hotel Porin», einem Flüchtlingsheim in Zagreb. Kroatien schiebt Flüchtlinge zurück nach Syrien und in den Irak ab. Ein Todesurteil. Von Kerstin Kellermann.«Die Polizei kam aus Deutsch-Wagram, und die Abschiebung war ganz in der Früh. Ich wollte gerade mit dem Hund gehen und habe die an der Haustüre aufgegriffen. Die Beeinspruchung des Dublin-Verfahrens war noch in Bearbeitung. Noch zwei Wochen bis zum Ablauf der Frist, dann hätte er automatisch Aufenthaltsrecht bekommen.» Die pensionierte Lehrerin Ingrid W. aus Strasshof, Niederösterreich, nahm einen Flüchtling auf und musste anschließend hilflos zusehen, wie er ihr nach zehn Monaten gemeinsamen Lebens außer Landes expeditiert wurde.

«Mein Mann und ich hielten die Polizisten auf, Ali* stand gerade unter der Dusche. Er hat aber nichts eingepackt, sondern einen Zusammenbruch gekriegt, geweint und gezittert. Die jungen Polizisten waren auch ganz berührt. Bei der Gartentüre drehte er sich noch einmal um und sagte: ‹Mama – er sagte Mama und Papa zu uns –, bleib’ ruhig, ich komm’ wieder zurück, ich muss ja in den Deutschkurs, und wer liest sonst an Weihnachten das Evangelium?› Muslime glauben ja auch an die Heilsgeschichte. Letztes Jahr las er das nämlich zu Hause vor. Wir haben ihn ja über die Pfarrgemeinde bekommen, beim Erntedankfest machte die Pfarrgemeinderätin, die sehr engagierte Gabriele Pohanka, den Aufruf, Flüchtlinge aufzunehmen.»

Diese illusorisch hoffnungsvolle Reaktion Alis auf die Abschubmaßnahme kommt mir wie eine kindliche Reaktion vor. Ingrid W. erinnert sich: «Ich bin ja erwachsen, aber wie ein Kind, sagte er oft.» Er habe keine Familie, keinen Beruf, sein Leben sei vorbei. Die Iraker seien mit zwanzig so wie wir Österreicher mit vierzig Jahren, ungefähr, meinte er. Ali kam in ein Anhaltelager nach Wien, «in eine Zelle mit Dealern und Verbrechern. Er konnte nichts essen. Mama, das Essen kommt durch einen Spalt in der Tür, ich kann nicht, sagte er.» Die kleine Frau mit großen Augen hinter der Brille zeigt den Flug-Anhänger von Alis Reisetasche her, «Wien Zagreb» steht darauf. «Den hebe ich mir auf», sagt sie.

Ingrid W. spricht so herzergreifend über Ali, als ob der junge Iraker, der miterleben musste, wie Killer des «Islamischen Staates» seinen Vater erschossen, wirklich ihr Sohn wäre. In ihrer Familie gibt es sowieso ganz eigene Vorstellungen und Erfahrungen in Bezug auf Kinder: «Ich hatte eine Großmutter, die in der Zwischenkriegszeit, als es keine Sozialversorgung gab, zehn Kinder bzw. Babys aus dem Heim geholt hat – das waren alles Kriegswaisen. Meine Großeltern hatten keine eigenen Kinder wegen den ganzen Kriegskindern vom Ersten Weltkrieg. Sie lebten in Korneuburg. Mein Vater ist eines von diesen Kriegskindern gewesen, im Heim hat er als Baby Kartoffelschalen und Kot gegessen. Meine Oma war Weißnäherin, ihr Mann Schweißer und Schlosser auf der Korneuburger Werft. Sie waren beide auch selber Heimkinder gewesen, arbeiteten Tag und Nacht und waren Sozialdemokraten. Im Zweiten Weltkrieg sind alle diese Kinder weggeblieben, nur mein Vater kehrte zurück, obwohl er bereits als Vierzehnjähriger in den Zweiten Weltkrieg einrücken musste. Eine Tochter hat noch überlebt, aber dieses Mädchen kam erst später zur Familie. Mein Vater lernte dann wie der Opa auf der Werft in Korneuburg Schlosser und Dreher.»

 

Die Katastrophe von 2015

«Die ganze Gemeinde in Strasshof hat schon während des Bosnienkrieges Flüchtlinge aufgenommen, die alle bei Privatleuten untergekommen sind. Eine Freundin von Gabriele Pohanka schleuste Ali aus Traiskirchen aus, sage ich einmal. Er ist aufgrund seines Alters überall durchgefallen. Keine Schulpflicht, obwohl er keine fertige Schulausbildung hatte. Während des ersten Irakkrieges wurde seine Schule gebombt. Eine englische Privatschule in Bagdad. Ali kommt von Federn auf Stroh (lacht) – auf Stroh liegt ein Bettelarmer, und die Federn haben nur die Reichen gehabt. Sein Vater war Logistikunternehmer und handelte mit Getreide. Ali besaß zwei Rennautos mit 16, er hatte schon den Führerschein. Seiner Familie gehörten mehrere Villen. Die wurden gebombt und der Vater im April 2015 getötet, weil er das Unternehem und seine Riesen-LKWs nicht an die Soldaten des ‹Islamischen Staates› übergeben wollte. Der Überfall fand zwischen zwei und drei Uhr in der Nacht statt. Die Mutter wurde im Rücken derart schwer verletzt, dass sie seither pflegebedürftig und gehbehindert ist. Alis Schwester und er schleppten die Mutter zur nächsten Autobusstation, versteckten sich und flüchteten dann mit dem Bus zur Großmutter nach Basra.

Die Großmutter und seine Mutter bedrängten Ali, außer Landes zu gehen, und schickten ihn per Flugzeug nach Erbil im kurdischen Gebiet im Irak. Von dort ging es über die Türkei zu Fuß und dann per Schlepper über das Meer nach Griechenland. Das Boot ist gekentert, mehrere Flüchtlinge sind ertrunken, seine Reisetasche wurde samt Reisepaß versenkt, etwas Bargeld und das Handy hatte er in das Gewand eingenäht. Er half Kinder an Land zu bringen, denn Schwimmwesten hatten nur die Männer. Seitdem kann der Junge nicht mehr schwimmen, weil er Angst hat. Ali machte dann im Sommer im Bad Floridsdorf einen Schwimmkurs, aber er kann nur dort schwimmen, wo er glaubt, noch Fuß fassen zu können. Das hat ihm sehr gut getan. Von Oktober bis Mitte Juli lebte er bei uns.»

In Alis Verfahren traten immer wieder Ungereimtheiten auf, oft hatte er einfach nur Pech. So wurde sein Name in Kroatien registriert, seine Fingerprints hingegen in Wien. Deswegen war er erst nach Österreich zuständig, erst später galt plötzlich nur die Namensnennung. Dometscher spielten auch eine Rolle: «In Traiskirchen mussten alle aus Bagdad auf die eine Seite, und bei der einen Dolmetscherin ist kein einziger Iraker mit einem positiven Bescheid durchgekommen», erzählt Frau W. «Man merkt jetzt die Schatten der Bundespräsidenten-Wahl, die Verschärfung des Asylrechts ist augenscheinlich. Alis Freunde waren dann plötzlich nicht mehr erreichbar – abgeschoben.»

Der Staat hat geholfen

Frau W. muss aber immer auch mit ihren eigenen Kindheitserinnerungen kämpfen, wenn sie sich um Ali kümmert: «1956 trat ich in die Schule ein, ich bin 1949 geboren. Ich habe die Staatsvertragsverhandlungen noch immer im Kopf, ich weiß genau, wie das Zimmer aussah, wie die Eltern sich über diesen Erfolg freuten, und dann war plötzlich diese Ungarnkrise. Mein Schulweg führte genau dort vorbei, wo diese Flüchtlinge untergebracht waren. Ich war sieben Jahre alt, und es war eisig kalt im November. Die Kinder standen vor der ehemaligen Albrechtskaserne mit bloßen Füßen, kahlgeschoren, mit kurzer Hose, kein Leiberl, und haben aber so etwas von durchscheinend und kalt ausgeschaut. Das war der erste Großeinsatz des 1955 gegründeten österreichischen Bundesheeres. Damals wurde niemand gefragt, ob man Flüchtlinge aufnehmen kann oder nicht. Es hat der Staat menschlich gehandelt. Es war niemand zu viel, es sind alle gekommen. Die Flüchtlinge, die nicht in der Kaserne untergebracht waren, lebten in ausrangierten Eisenbahnwaggons, aber nicht nur für zwei Monate, die lebten da Jahre! Der eine Bub, der ist mir noch heute von Angesicht zu Angesicht im Kopf – ich werde das nie in meinem Leben aus meinem Gedächtnis streichen können. Ich habe immer unter kalten Füßen und Händen gelitten, und der Bub stand dort bei Schneegrisseln mit bloßen Füßen heraußen. Wir hatten von der Schule her eine Sammelaktion für Aluminium, Bierdeckel und Milchflaschenverschlüsse und einen Aufruf, für Weihnachten etwas zu spenden. Meine Mutter besaß auch nichts, aber einen Würfelzucker schon, der ist bei uns am Christbaum gehangen. Sie hat alte Pullover, Westen, und Hauben aufgetrennt, aus der Wolle Socken gestrickt und Ledersohlen darauf genäht, und diese neuen Socken mit Würfelzucker darin haben wir gespendet, eine kleine Gabe. Das war von Herzen zu Herzen. Mit diesem Background bin ich groß geworden, das wissen auch meine Kinder.»

Nun fährt Ingrid W. immer wieder nach Zagreb, um Ali, der bei dem IS-Überfall selbst auch mit Elektroschocker und Gewehrkolben verletzt wurde und seine Traumata schmerzhaft über den Körper austrägt, zu besuchen. Kroatien schiebt nach Syrien ab und auch in den Irak, obwohl die Regierung wissen muss, dass das für viele Flüchtlinge ein Todesurteil bedeutet.

*Name der Redaktion bekannt