Am Berndlhäufelvorstadt

FLANERIE abseits der Tourismusrouten (10): Im 100-jährigen (?) Bad

Bis zu 30.000 Personen bevölkern an den heißesten Tagen den zwei Kilometer langen Strand des Gänsehäufels. Nullthema für eine Rubrik, die sich den unbekannten Räumen Wiens widmet? So populär das Sommerbad ist, so vergessen ist sein Gründer. Ein Tipp für MenschenmassenflüchterInnen: Die Anlage bei Schlechtwetter zu besuchen (werktags ab 9, samstags und sonntags ab 8 Uhr) kann als Wallfahrt auf jene Insel zelebriert werden, auf der ein gewisser Florian Berndl unverfroren das Verschmähen heiliger Anstandsregeln des 19. Jahrhunderts predigte.100 Jahre Gänsehäufel“ feiert Wien im kommenden Jahr. „Am Gänsehäufel. Ein Strandbad wird 100“ ist der Titel einer Ausstellung, die am 27. Juni 2007 im Wien Museum am Karlsplatz eröffnet wird. Laut Museums-Pressestelle ist derzeit noch nicht entschieden, wer die Schau kuratiert. Wen sollte ich also fragen, ob im Rahmen dieser Ausstellung der legendäre Gänselhäufel-Gründer Florian Berndl die Würdigung erhält, die er verdient? Die offizielle Datierung des „runden Geburtstages“ deutet auf anderes hin. Wer die wilde, aufregende Geschichte, die mit dem Namen Berndl verbunden ist, in die Gesamtvergangenheit des Bades integriert, müsste den 107. Geburtstag ausrufen.

Der Umstand, dass es in dem beliebtesten Bad der Alten Donau einen Bereich der Verhüllten neben der Zone der Hüllenlosen gibt, ist so selbstverständlich geworden wie die Tatsache, dass man in jedem ordentlichen Wirtshaus ein Frauen- und ein Männerklo vorfindet oder an jedem ordentlichen Wasserhahn einen roten und einen blauen Knauf.

Eine Wiener Stadtzeitung schrieb sogar, das selbst die Queer-Community im FKK-Bereich sich präsent geben dürfe, was für zentrale Badeanstalten im europäischen Vergleich keineswegs eine Selbstverständlichkeit sei. Ein möglicherweise allzu subjektiver Einwand: Meine Nachbarn Claudius und Alex haben diese Beobachtung relativiert, nachdem die beiden – in ihrer privaten Eigenschaft als schwules Paar -die Queer-Qualität des Gänselhäufels der Nackerbazis getestet hatten. Der unerotisch-familiäre Charakter dieses Strandes übe für Schwule ihres Typs wenig Anziehung aus, es sei denn, man lege großen Wert auf die absolute Absenz von Hundstrümmerl und darauf, der „schwulen Szene“ einmal gründlich aus dem Weg zu gehen. Aber selbst letztgenanntes Verlangen, als solches durchaus plausibel, könne besser -und gratis – im allgemeinen Nacktbereich der Donauinsel verwirklicht werden, abseits vom „Toten Grund“, dem Areal Nr. 1 der „Szene“.

Auch wenn das Gänsehäufel wohl claudius- und alexfrei bleiben wird: Die Nackten schaffen Fakten, derart, dass hierorts ein Strand des Anstands im althergebrachten Sinn dieses Wortes nicht mehr gedacht werden kann. Immer weniger Gänselhäufel-BesucherInnen wissen aber, dass dieser Hauch von Liberalität ein Erbe der wilden Anfangsperiode der Badeanstalt ist. Gänsehäufel-Erfinder Florian Berndl hat die Zurückweisung der überkommenen Moral der Badekultur vorgelebt und Tausende zur fröhlichen Mitwirkung an dieser Verwerfung angestiftet.

Im Mozartjahrzirkus ist die Vorstellung, dass wir auch das Freudjahr zu feiern hätten, untergegangen; das Berndljahr wurde gar nicht erst ausgerufen, obwohl der Umstand, dass sein 150. Geburtstag zu feiern wäre, sowie die plausible Annahme, dass Berndl ebenso viel zum Fall veralterter Moralvorstellungen beitrug wie Sigmund Freud, Gründe genug für ein konzentriertes Erinnern böten.

Proto-Hippies  Der Hype der Lebensreform-Bewegung

Aber das Jahr ist ja noch nicht um: Ich empfehle, Lektüre mit aufs Gänsehäufel zu nehmen, die geeignet ist, die Berndl-Wissenslücke zu stopfen, etwa René Freunds im Picus-Verlag erschienenes Buch „Land der Träumer“. Dem ist zu entnehmen, wie Florian Berndl, Sohn einer Waldviertler Schamanin, im Jahr 1900 eine wilde Insel in der Alten Donau zum Freiraum einer neuen gesellschaftlichen Bewegung machte, die die althergebrachten Normen der Badekultur, die Trennung der Geschlechter und die Dämonisierung der Nacktheit zum Teufel schickte.

Kein Zufall, dass das Gänsehäufel-Geburtsjahr auch das Jahr der Gründung von „Monte Verità“ war, jener Kolonie auf einem Hügel über der Schweizerischen Stadt Ascona (Tessin), die zu einem der zentralen Versuchsfelder für alternative Lebens- und Kunstformen zwischen der Jahrhundertwende und dem Zweiten Weltkrieg wurde. KünstlerInnen und AussteigerInnen begannen hier ab 1900, die Utopie des „Zurück zur Natur“ als praktische Antwort auf die rasche Industrialisierung in Europa in die Realität umzusetzen. VegetarierInnen, PazifistInnenn, NudistInnen, Freimaurer, Feministinnen, TheosophInnen, AnarchistInnen, SozialistInnen und Bohemiens fühlten sich gleichermaßen von der „Lebensreform“-Ideologie des Monte Verità angezogen. „PR-Arbeit“ für diese Lebensweise machte dann vor allem der Autor Hermann Hesse, der sich einer langen Alkoholentziehungskur auf der Kolonie unterzog. Er trug mit seinen Texten und Büchern maßgeblich zum Hype dieses „Hügels der Spinner“ bei. Das Wirken des österreichischen Proto-Hippies Berndl weist auf den weiten Aktionsradius der Lebensreform-Bewegung hin. Auch das verrückte Gänsehäufel hat KünstlerInnen angesprochen, etwa die Schriftsteller Peter Altenberg und Hermann Bahr oder den Burgtheaterdirektor Max Burckhard.

Das Rathaus führte wieder Sitte und Anstand ein

René Freund – um auf sein „Land der Träumer“ zurückzukommen – beschreibt schließlich, wie die „anständigen“ Medien solange eine Kampagne gegen den seiner Zeit vorauseilenden subversiven Wellness-Guru Berndl entfachten, bis die Politik nach ihrer Pfeife tanzte: Die Gemeinde Wien löste einseitig den Pachtvertrag mit Florian Berndl auf und errichtete 1907 das städtische Strandbad Gänsehäufel, in dem „Sitte und Anstand“ wieder hergestellt wurden. Das Bad wurde nämlich dreigeteilt – in ein Damenbad, ein Herrenbad und ein Familienbad.

Die WienerInnen, unter anderem durch Freigeister wie Berndl „undiszipliniert“ geworden, unterliefen diese Regulierung umgehend. Vor dem Gänsehäufel-Eingang entstand ein Badestrich. Jeder und jede konnte so eine Partnerin, einen Partner finden, um als fiktive Familie sich den Einlass in den gemischten Bereich zu erschwindeln. Der Satiriker und Kabarettist Richard Hutter hat dieser kleinen Wiener Hochsommeranarchie mit seinem Anekdotenbüchlein „Gänsehäufel“ aus der Zeit vor dem Ersten Weltkrieg ein Denkmal gesetzt.

Seine (noch durch keinerlei Gender-Bewusstsein beeinflusste) Anleitung zur Überschreitung des Gemischtbadeverbots nennt sieben Methoden, wie sich ein Solo-Mann in den begehrten Familien-, also gemischten Bereich einschmuggeln kann. Ich zitiere aus Punkt 4, der „Methode à la Bluff“: „Der allein zur Kasse kommende Junggeselle verlange mit ruhiger Sicherheit zwei Karten ins Familienbad. Auf die Frage der blonden Kassierin, wo die Dame sei, deute er leger nach rückwärts. Nicht selten glaubt die Kassierin, dass eine zufällig dort stehende Person weiblichen Geschlechts zu einem gehöre und verabreicht einem die beiden Karten. Diese Methode ist mit Vorsicht anzuwenden, da die blonde Kassierin ein gutes Physiognomiegedächtnis besitzt.“ Auch die „Tauchmethode“ fehlt nicht in der Trickliste, allerdings könne man – im intersexuellen Gewässer auftauchend – leicht eine Ruderstange auf den Schädel kriegen, denn die Aufseher in ihren Schinakeln seien zahlreich und aufmerksam.

Berndl starb 1934. Er hätte noch 50 Jahre warten müssen, um die Wiederkehr des Nackten auf seine Insel zu erleben. Als in den 80er Jahren wegen eines Hochwassers die Nudistenfraktion der Donauinsel plötzlich ohne Liegewiesen dastand, eroberte sie sich einen Teil des Gänsehäufels: jene Zone, die nach einigem Hin und Her zum offiziellen FKK-Sektor wurde.

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