Am Boulevard für Armevorstadt

Andreas Tröscher über den Moment, da die Rose vom Gürtel abbog

17 namhafte Journalist_innen machen sich Gedanken über ihr Wien (Teil 6)

Da lag sie nun und wusste nicht, wie ihr geschah. Dabei war sie ihm endlich näher, als sie jemals zu wagen hoffte; doch jetzt, wo ihre Wangen, ihre Hände und Schenkel seine raue Haut berührten, da fühlte sie Zurückweisung, kalt und gleichgültig stieß er sie weg. Rund um sie rauschte und toste der große, breite Fluss aus Asphalt und Autoblech, gespeist von hunderten Bächen, aus denen ebenfalls Asphalt und Autoblech liefen, zaghaft in ihm mündeten, beeindruckt von seiner Mächtigkeit und seiner Kraft.

Stimmen näherten sich, Hände packten sie unter den Achseln, an beiden Beinen und zerrten sie von ihm weg. Langsam gewannen ihre Gedanken an Klarheit, Rosemarie Wegener, das war ihr Name, natürlich war das ihr Name, halt, wohin, was in aller Welt? Frau Wegener, Sie sind bei Rot über den Währinger Gürtel und von einem Auto angefahren worden. Können Sie mich verstehen? Wir bringen Sie jetzt ins Meidlinger Unfallkrankenhaus, das AKH ist leider überfüllt. Der Sanitäter schrie ihr ins Ohr, versuchte, die Sirene des Rettungswagens zu übertönen, Türen krachten ins Schloss, Reifen quietschten, dann, endlich, wurde es im Kopf von Rosemarie Wegener wieder ruhig und flauschig, nur noch das Surren der Fahrbahn drang zu ihr durch. Am Gürtel also, Gott sei Dank, seufzte sie zufrieden in sich hinein, ich bin daheim, alles in Ordnung. Der Rettungswagen rumpelte über Straßenbahnschienen hinweg. Alser Straße.

 

Kannst dich erinnern, Rose, unter dem Stadtbahnbogen, im Winter ’37?

Dass du das noch weißt, Otto, allerhand.

Natürlich weiß ich das, wie könnte ich unseren ersten Kuss vergessen?

Du Hallodri, ich hab schon gedacht, was ist denn das für einer, ein Stadtbahn-Schienenschleifer, ist das überhaupt ein Beruf, ein ehrenwerter? Vorgestellt hast dich mit Gestatten, Otto Wegener, und ich hab schon gedacht, du bist der, der die Stadtbahn gebaut hat.

Du dachtest, ich sei der Otto Wagner? Du Dummerl …

Achtung, Autofahrer! Am äußeren Hernalser Gürtel kommen Sie derzeit nur sehr langsam voran, Grund ist eine Baustelle auf Höhe Josefstädter Straße, der Stau reicht im Moment bereits bis zur Jörgerstraße zurück.

Der Fahrer fluchte, riss das Lenkrad herum und raste den Radweg entlang, dort wo einst der 8er gemächlich dahin gondelte, neben den Viadukten der Stadtbahn, wo er ihr geduckt und unterwürfig hinterher hechelte, wie ein dicker, träger Hund, den man 1989 einschläferte, als aus der Stadtbahn die U6 wurde, neuer, schneller, effizienter. Blaulicht, Sirenengeheul. Rosemarie Wegener fröstelte. Lerchenfelder Gürtel, es ging bergab, hinunter zur Thaliastraße, wo es abermals rumpelte, die Schienen des 46ers kreuzten.

Den hast du nie gemocht, Rose, der war dir zu laut, du hast immer gesagt, der kreischt so, weißt du noch?

Hör mir auf mit dem 46er, Otto, um den musste ich danach immer einen großen Bogen machen. Wieviel Jahre waren es, die ich in dem Milchgeschäft, gleich neben dem Kino, gearbeitet hab?

Zu viele, Rose, das war keine schöne Zeit, auch für mich nicht, keine Arbeit bei der Stadtbahn mehr, dafür Pflastersteine rausreißen aus dem Gürtel, wie ein Zahnarzt für Riesen bin ich mir vorgekommen, als die Fahrbahnen mit glattem Asphalt überzogen wurden. Wann war das gleich?

Otto, ich weiß es nicht, 58 vielleicht, 59. Die Mutti muss noch gelebt haben.

Achtung Autofahrer! Der äußere Gürtel kommt heute wieder einmal nicht zur Ruhe. Auf Höhe Westbahnhof hat sich ein Unfall ereignet, der Stau reicht bis Urban-Loritz-Platz/Stadthalle zurück. Es ist nur eine Fahrspur frei. Versuchen Sie großräumig auszuweichen.

Ja, die Mutti, die hat wirklich lange durchgehalten, die ist fast so alt geworden wie du, Rose. ’74 ist sie gestorben, da war sie 91. Und was die noch alles gewusst hat, von früher, als der Gürtel noch längst kein Gürtel war. Die Linie, hat sie immer zu ihm gesagt, auch später noch, als der Gürtel längst schon der Gürtel war. Für sie wurde er nie wirklich zur Straße, ist stets Grenze geblieben.

Du darfst ihr das nicht vorwerfen, Otto, sie ist damit aufgewachsen. Wenn sie mit dem Gemüse rein ist am Naschmarkt, hat sie zahlen müssen, nicht viel, aber doch. Dafür sind viele aus der Josefstadt oder vom Alsergrund zu ihnen nach Währing ins Geschäft gekommen, weil die Zwiebeln und Paradeiser, der Karfiol und die Erdäpfel in den Vororten günstiger waren.

 

Du hast ja recht, Rose, wer sich schon als kleines Kind zerschundene Knie vom Spielen am Linienwall geholt hat, für den wird es nie etwas anderes geben. Nur diesen kolossalen Abenteuerspielplatz, der alle Armut vergessen hat lassen, diese Mischkulanz aus Erdreich und Ziegel, die die Wienerstadt einst schützen sollte vor ihren Feinden.

Und wer schützt uns heute, Otto, vor den schnellen Autos, den rasenden?

Tja, Rose, die Zeiten haben sich geändert, der Gürtel hat sich verändert. Die vielen billigen Geschäfte, das Heruntergekommene, das Rotlicht, die vielen Ausländer.

Otto, ich bitt dich, sei nicht ungerecht. Was waren wir denn, als man uns im 12er-Jahr die Einzimmerwohnung im Erdgeschoss zugewiesen hat? Die Wegeners aus Mähren, dazu die Zabloudils aus Böhmisch Budweis, die Szekelys aus Gran. Alle nicht von da. Aber er hat uns aufgenommen, Otto, erinnere dich, er war immer gut zu uns.

Ich weiß nicht, Rose, du sprichst von ihm wie vom Kaiser, aber …

Sei still, Otto, ich flehe dich an, red nicht so über ihn, in dieser Stunde …

Sirenen heulten. Reifen quietschten. Der Rettungswagenlenker fluchte und wich wieder aus. Vom Urban-Loritz-Platz hinunter zum Westbahnhof, parallel zur Fahrbahn auf den Schienen des 9ers. Mullbinden purzelten aus den Stellagen, fielen auf die Trage von Rosemarie Wegener. Nix passiert, fahr weiter! Sie kriegt das eh nicht mit.

Rose, hörst du mich, es ist jetzt gleich so weit. Sie werden abbiegen, auf die Wienzeile, raus nach Meidling. Verabschiede dich von deinem Gürtel, man kann nie wissen. Ich hatte damals auch nicht die Gelegenheit. Verpasse sie nicht.

Nein, Otto, werde ich nicht. Machs gut, mein Großer, und sei nicht traurig, bist du eh nicht. Ich gehe jetzt. Otto wartet schon.

Andreas Tröscher, 1970 in Wien geboren, Redakteur der Austria Presse Agentur, schreibt hie und da ein Buch. Und lebt außerhalb des Gürtels.