Aufgeschnittene Stadtvorstadt

Fotografien vom architektonischen Ende

Mehr als ein Jahrzehnt ist der Fotograf Kurt Prinz den Abrissbirnen dieser Stadt gefolgt. In «Sezierte Architektur» dokumentiert er die letzten Tage imposanter Gebäude: Südbahnhof, Hanappi-Stadion, aber auch der «Centaurus Saunaclub» in Floridsdorf kommen zu finalen Ehren. Lisa Bolyos (Text) hat sich durch die kaputte Stadt geblättert und war heimlich selbst ein bisschen fasziniert.«Ruin Porn» nennt sich das Genre der Fotografie, das mit Vorliebe in Industrieruinen entsteht und seinen Wert daraus bezieht, dass etwas Großes, Funktionierendes jetzt kaputt ist und stillsteht – und dass man sich hineingetraut hat. Es gibt eigene Fotograf_innenforen, vielleicht sollten wir sie auch Fotografenforen nennen, denn sie haben viel mit Männlichkeit, Geschichtsvergessenheit, Abenteuerlust und Selbstüberschätzung zu tun. Einst selbst der Industrieromantik verbunden, stieß ich vor Jahren auf einen Fotoblog, auf dem jemand im Wettbewerb um die krassesten Fundstücke Bilder aus einem aufgelassenen Atomkraftwerk gepostet hatte: Er war in einen Schacht gestiegen, in dem einen halben Meter hoch schmutziges Wasser stand, um das auf die Wand gesprühte Totenkopf-Verbotsschild aus nächster Nähe abzulichten. Da draußen gab es also Menschen, die bereit waren, für ein Foto von rostigen Gebäuderesten im Niemandsland zu sterben! Ich wusste, ich war aus dem Rennen und wandte mich anderen Sparten zu.

«Natürlich ist es auch klassisch so ein bisschen eine Abenteuerlust», sagt Kurt Prinz im Gespräch mit Robert Rothmann (das seinem Bildband vorangestellt ist). Adrenalinkick? Ja, wobei er sein Gefühl dabei sehr nett umschreibt: «Jetzt da rein allein, puh.» Als Ruinenpornograf muss man ihn dennoch nicht einstufen, dazu ist seine Arbeitsweise zu geduldig: Nicht der schnelle Schnappschuss (und, wichtig: die geheim gehaltene Adresse!), sondern die langfristige Beobachtung der Stadt ist seine Agenda. Wie die großen Gebäude Wiens lange vor ihrem Verfallsdatum zum Einbruch gebracht werden, wie sie aufgeschnitten, seziert, zerbröselt werden. Gerade war da noch was, jetzt ist da nichts mehr. Das hat immer auch etwas von bürgerlichem Eskapismus, sagt der Fotograf: «Man findet das Unterhaltsame in apokalyptischen Szenarien, macht sie konsumierbar und bettet sie wieder in eine kapitalistische Verwertungslogik ein.»

In seinem Buch «Sezierte Architektur» wirft Kurt Prinz Chirurgenblicke auf unwiederbringlich Kaputtgemachtes. Ein sehr guter Wien-Bildband ist das geworden. All den Neulingen, die staunend durch die blankgeputzten Straßen gehen, sollte man ihn schenken – auch das ist Wien, diese hinnige Stadt. Es ist sehr faszinierend, keine Frage!, wenn sich Stahl aus gebrochenem Beton kringelt wie eine zerschnittene Strickerei. Das Große schaut ganz klein aus. Das, was massiv war, worauf wir ohne Sorge gehen konnten, was gerade noch mit Autos befahrbar war und Tonnen an Gewicht getragen hat, ist plötzlich umgebogen und zerbrochen wie eines dieser kleinen Architekturmodelle aus Hartschaumstoff und Sandwichplatten. Das verunsichert den sonst so selbstbewussten Schritt ein bisschen. Die Fotos erlauben, dort hineinzuschauen, wo man sonst keinen Zutritt hatte: in die Wohnungskästchen eines Gemeindebaus, in Fabriketagen, das Innere eines Umspannwerks, in die aufgebrochenen Zellen der Jugendvollzugsanstalt. Hier wird die hundertfach auf Hauswände gesprühte Utopie Wirklichkeit: «Knäste zu Baulücken!»

Seine Bilder, findet Kurt Prinz, beinhalten «Kapitalismuskritik, da sie mit der Vorstellung brechen, dass dieses System zum Erfolg führen wird». Das kann man für ein entleertes Detroit durchaus sagen. Aber in Wien ist es nicht das Ende der Produktion, sondern ihre permanente Ankurbelung, die es verlangt, Gebäude wie den Südbahnhof (ja, um den muss man noch einmal weinen, wenn man das Buch durchblättert!) abzureißen, um sie dann einfach neu zu bauen. Es ist nicht das Ende des Kapitalismus, sondern der Kapitalismus selbst, der keinen anderen Gegner kennt als Denkmalschutz und unbefristeten Mietvertrag. Alles andere kann weg – für ein dickes Plus am Konto der Bauwirtschaft. Eines der absurdesten Beispiele in Prinz’ Bildband ist des Imax Kino in Penzing: «erbaut 2002 / abgerissen 2010» steht kommentarlos daneben.

Kurt Prinz: Sezierte Architektur

Text/Rahmen 2016, 152 Seiten, 25 Euro

Buchpräsentation & Ausstellung: 24. Juni (mit Live-Konzerten ab 19 Uhr) – 7. Juli

Brick 5, Fünfhausgasse 5, 1150 Wien

www.kurtprinz.at