Die Unsichtbarenvorstadt

Schweizer Fotografin arbeitet zu Obdachlosigkeit in Griechenland

Mit dem Projekt «invisible people» widmet sich Eva Borner Wohnorten von Obdachlosen in Griechenland. Ihre Fotografien zeigen nicht die Betroffenen selbst, sondern deren Schlafplätze. Michael Gasser vom Zürcher Straßenmagazin «Surprise» sprach mit der Schweizer Künstlerin.

Auf Ihrer Facebook-Seite findet sich ein «I love Greece»-Bild, das jemand mit «Greece loves you too» kommentiert hat. Was verbindet Sie mit dem Land?

Seit 25 Jahren besuche ich dieses Land regelmäßig. Und ich habe vier Jahre lang in Griechenland gelebt, erst in Santorini, dann in Athen. Seither habe ich dort gute Freunde.

Die Basis Ihrer Foto- und Videoarbeit bildet die Auseinandersetzung mit der Ästhetik der Absenz. Auch Ihre neue Installation zu Schlafplätzen von Obdachlosen zeigt keine Menschen. Warum?

Ich empfinde das als offener: Der Betrachter hat die Möglichkeit, sich in die Situation hineinzuversetzen – ohne befangen zu sein. Mein aktuelles Projekt «invisible people/Wenn ich weiß, wo ich bleibe» geht auf meine letzten Aufenthalte in Griechenland zurück. Bei diesen bin ich angesichts der immer größer werdenden Anzahl von Obdachlosen erschrocken.

Laut der griechischen NGO Klimika leben alleine in Athen an die 15.000 Obdachlose. Eine Zahl, die sich zwischen 2013 und 2015 vervierfacht haben soll. Wie wirkt sich das auf die Stadt und ihre Bewohner_innen aus?

Die Stimmung in Athen ist angespannt. Man spürt, dass das Land unter den erbarmungslosen Sparmaßnahmen leidet. Diese haben die soziale Infrastruktur weitgehend zusammenbrechen lassen. Alle haben Geldsorgen, auch meine Freunde. Selbst diejenigen, die gut ausgebildet sind. Darunter etwa ein Professor für Ökonomie, der jetzt – wie so viele – nur noch ein Drittel seines früheren Lohnes erhält. Und das, obschon die Preise stetig steigen.

Wo leben die Obdachlosen in Athen?

Im vergangenen Winter fand ich in vielen Häusernischen Indizien für menschliche Behausungen. Um mich genauer zu informieren, kontaktierte ich das Athener Straßenmagazin «Shedia». Ich wollte an einem ihrer von Obdachlosen geführten Stadtrundgänge teilnehmen. Man konnte mir Michalis vermitteln, einen ehemaligen Flugzeugingenieur der 2009 privatisierten Olympic Airways. Er hatte in den USA studiert, spricht perfekt Englisch und wohnt jetzt in einem Männerwohnheim. Er hat mich in die Welt der Obdachlosen eingeführt.

Haben Sie gezögert, die Schlafstätten der Obdachlosen zu fotografieren? Darf man das aus ethischer Sicht?

Wäre ich selbst in der Situation, wüsste ich nicht, wie ich reagieren würde, wenn jemand meine Privatsphäre fotografierte. Das gebe ich zu. Doch Michalis war der Auffassung, es sei essenziell, auf die Obdachlosigkeit in Griechenland aufmerksam zu machen und diese zu dokumentieren. Ich habe mir dies zu Herzen genommen und versucht, gut hinzuschauen. Dank meinen Begegnungen wurde mir rasch klar, auf welche Betroffene ich zugehen kann und auf welche nicht. Ich habe mich mit den Menschen unterhalten und sie gefragt, ob ich ihre Schlafplätze fotografieren darf. Obwohl ich zu diesem Zeitpunkt noch nicht wusste, ob und wie ich die Bilder verwenden würde. Trotzdem haben mir alle erlaubt, ihre Situation in meinen Arbeiten darzustellen.

Sind Sie auch obdachlosen Frauen begegnet?

Gemäß «Shedia» sind 30 Prozent der Obdachlosen weiblich. Doch ich muss gestehen, dass ich in den neun Monaten in Athen keiner einzigen obdachlosen Frau begegnet bin. Überrascht hat mich, wie gut ausgebildet die Betroffenen sind. Alle sprachen ein exzellentes Englisch. Bei den Gesprächen wurde mir bewusst, wie wenig es in Griechenland braucht, um auf der Straße zu landen: Man wird entlassen, findet keinen neuen Job, und bereits zwei, drei Monate später verlieren manche ihr Dach über dem Kopf.

Was zeigt sich, wenn man den Blick nicht auf die Obdachlosen, sondern auf deren Habseligkeiten richtet?

Durch dieses Vorgehen wollte ich die Obdachlosen auch schützen. Ihre Situation sollte nicht rücksichtslos öffentlich werden. Und ich denke, dass alleine die Schlafplätze sehr viel erzählen. Deshalb habe ich mir auch nie die ­exakten Namen oder Geschichten der Bewohner notiert.

Haben Sie die Fotos in irgendeiner Form inszeniert?

Nein, ich habe die Situation exakt so abgelichtet, wie sie sich mir präsentierte. Insgesamt habe ich rund 50 Schlafstätten fotografiert. Und immer verspürte ich großen Respekt davor. Nach und nach fiel mir auf, dass die Obdachlosen ihre Plätze sehr bewusst auswählen. Es waren oftmals schöne Orte, die sich durch ein auffälliges Graffito oder tolle Poster auszeichneten. In der Regel waren die Plätze überdies gut einsehbar. Durch diese Öffentlichkeit wollten die Obdachlosen wohl nicht nur sich selbst, sondern auch ihr weniges Hab und Gut schützen.

Sind Sie seit dem Abschluss Ihrer Arbeit einem der Obdachlosen nochmals begegnet?

Nur zu gerne hätte ich den Betroffenen die Bilder gezeigt. Doch bis auf einen waren alle bei meinem nächsten Besuch bereits weitergezogen. Wohin, weiß ich nicht. Vielleicht finde ich es diesen Winter heraus, wenn ich wieder nach Griechenland reise.

Freundlicherweise zur Verfügung gestellt von Surprise/INSP.ngo