Eine Stadt erfindet sich neuvorstadt

Addis Abeba: Flanerien durch eine Megacity

In Addis Abeba wird «Stadtentwicklung» neu definiert. Mit einem Affenzahn werden die Armen an die Ränder gedrängt, das Zentrum soll in neuem Glanz erstrahlen. Lisa Bolyos (Text und Fotos) hat sich darüber trotz Baustellenlärm mit Restaurantbesitzerinnen, Architekten und Künstlerinnen unterhalten.

Mimi Workalemahu* hat ein Restaurant. Hier kredenzt sie frischgebrühten Kaffee, Cay und Injera. Injera ist sozusagen das «Knödl mit Ei» von Addis Abeba, es wird an jedem Eck angeboten, ist vegetarisch, sättigend und hat lokale Tradition. Ein fluffiger Teig, mit dem man Gemüse und Saucen aller Art isst – ja, man bekommt das auch in Wien, zum Beispiel in der Währinger Straße, aber bei allem Respekt, die äthiopische Hauptstadtvariante bleibt unübertroffen.

Mimi Workalemahu hat ihr Restaurant im vorderen Teil ihres Wohnhauses eröffnet. Hinten, im Wohnzimmer, sitzen ihr Mann und die Enkelin gemütlich auf der Couch und schauen die Fernsehnachrichten an. Vorne drängeln sich Student_innen und Lektor_innen der Kunstuniversität ALE, ein Anwohner aus der Straße, der Besitzer des Nachbarkiosks und Besucher_innen aus Wien um die kleinen Holztischchen. Mimis Restaurant ist für manche hier im Stadtteil Arat Kilo ein zentraler Treffpunkt geworden. Wie lange noch, liegt in der Hand der Behörden. In etwa einem Jahr soll die Straße mit ihren kleinen Häusern, Kiosken, Cafés und Geschäftslokalen der «Stadtentwicklung» weichen. Für den Grund, auf dem die Häuser gebaut sind, hat hier niemand Eigentumsrechte.

Ein Haus, ein Baum, kein Land

Das ist keine Ausnahme, sagt Bisrat Kifle: «Es ist generell so, dass das Land der Regierung gehört, und wenn geräumt wird, stehen dir nur eine Ausgleichszahlung für dein Haus oder die Bäume in deinem Garten zu. Sieht man sich an, woraus viele Häuser gebaut sind, kann man die Höhe dieser Zahlungen leicht ermessen.» Proteste gibt es selten, wenig verwunderlich bei den Strafen, die für Widerstand gegen die Pläne der Regierung drohen. Im Juni des letzten Jahres haben Bewohner_innen einer räumungsbedrohten Siedlung sich trotzdem gewehrt, erzählt Kifle: «Es betraf eine Siedlung in Hana Mariam, im Südosten der Stadt. Die Leute hatten dort jahrzehntelang gewohnt, natürlich ohne ein Recht auf das Land.» Als die Behörden nach Hana Mariam kamen, um die Räumung anzukündigen, standen die Bewohner_innen dagegen auf. «Es gab Tote auf beiden Seiten.»

Bisrat Kifle ist Mitte dreißig, Universitätslektor und Architekt. Sein Büro liegt im herausgeputzten Bole im Osten der Stadt. Früher war er für die Stadtregierung tätig, aber mit deren Vorstellungen von Stadtentwicklung konnte er sich nur bedingt anfreunden. Hört man ihm zu, hat man den Eindruck, dass Addis Abeba von Grund auf neu erfunden werden soll. Die mammutartige «Entwicklung», die angestrebt wird, lässt kaum einen Stein auf dem anderen.

Schnürsenkel gegen die Stille

Von vier bis sieben Millionen Einwohner_innen ist in Addis Abeba die Rede, je nachdem, wie viel der neu entstandenen Agglomerationen man noch als Hauptstadt gelten lässt. Und hier liegt auch eines der zentralen Probleme: die Vertreibung aus der Mitte an den Rand. In Addis Abeba sind die Klassen (noch) nicht in konzentrischen Kreisen zueinander geordnet: in der Mitte Adel und Bourgeoise, an der Peripherie die Armen. Die informellen Wohnsiedlungen derer, die sich keine Villen leisten können, liegen quer durch die Stadt verstreut. Der Entwicklungsplan sieht vor, diesem sozialen «Durcheinander» ein Ende zu bereiten: Das Zentrum soll glänzen, an den Rändern werden – durchaus ansehnliche – Wohnblocks gebaut, in die die Armen ziehen müssen. Aber so einfach machen die Menschen ihre Umsiedlung nicht mit, denn mögen an den Stadträndern auch Wohneinheiten sonder Zahl entstehen – die Netzwerke, die über Generationen aufgebaut wurden, lassen sich doch nicht in Umzugskartons packen. «Wenn ein Stadtteil zerstört wird», sagt Konjit Seyoum, «geht das ganze soziale und ökonomische Gefüge in Brüche.» Die bildende Künstlerin und Konferenzdolmetscherin (Kroatisch hat sie an der Adria gelernt und kann schimpfen wie eine Ottakringerin) betreibt in Arat Kilo eine Galerie. Sie ist, wie Bisrat Kifle, in Addis aufgewachsen und beobachtet die Veränderungen live.

Auch Yordi Berhanu* ist bildende Künstlerin. Ihre Kunst macht sie aus Schnürsenkeln. Sie bietet auf der Straße neue gegen alte Senkel zum Tausch an, um die schnürsenkelschnürenden Passant_innen in Gespräche über die rasante Veränderung der Stadt zu verwickeln. Sie klebt Schnürsenkel in Form von Tonfrequenzen auf Sperrholz, um die Stille sichtbar zu machen, die über der Stadt liegt. «Die Stille ist kein freiwilliger Akt», sagt sie. «Sie wird uns aufgezwungen.»

Ausnahmezustand in der Entwicklungsdiktatur

Seit Oktober des vergangenen Jahres gilt in Äthiopien der Ausnahmezustand. Wie kam es dazu? Der Entwicklungsplan der äthiopischen Regierung geht weit über Addis Abeba hinaus. Das ganze Land, dessen Einwohner_innen zu etwas mehr als drei Viertel agrarisch wirtschaften, soll einem Industrialisierungs- und Urbanisierungsprojekt unterzogen werden. Dazu gehört zum Beispiel die absurd anmutende Idee, achttausend (!) Kleinstädte am Reißbrett zu planen. Bisrat Kifle kann darüber nur den Kopf schütteln: «Ich kann mir ja noch nicht einmal vorstellen, achttausend Häuser zu entwerfen.» Zu den Konflikten über die Entwicklungspläne kommen aber viel tiefer liegende politische Trennlinien hinzu. Äthiopien wird von einer elitären Minderheit der Tigray regiert. Das Land besteht jedoch aus einer Vielzahl von Volksgruppen – und Klassen –, denen trotz des verfassungsgemäßen Föderalismus keine Mitsprache gewährt wird. Nun kam es im Zuge der Stadterweiterungsversuche in der Region Oromia, die Addis umschließt, ab 2014 zu massiven Protesten von Bäuerinnen und Studenten, die sich bald über weite Teile des Landes ausdehnten. Längst ging es nicht mehr «nur» um Städtebau und Landraub, sondern um grundlegende demokratische Rechte. Die Regierung reagierte mit Gewalt, mehr als 500 Menschen starben; mehr als elftausend Verhaftungen gab es seit Einführung des Ausnahmezustandes, darunter Blogger, Journalistinnen, Künstler. Zeitungen wurden eingestellt, Social Media zeitweise abgeschalten. Nicht umsonst wird Äthiopien eine Entwicklungsdiktatur genannt. Und die Unterstützung aus dem Ausland, namentlich Europa, den USA und China, bleibt nicht aus. Trotz zeitweise sanft geäußerter Kritik an der Unterdrückung jeglicher Opposition will man sich nicht zu weit aus dem Fenster lehnen: Zu stabil ist Äthiopien als ökonomischer Faktor, als Absatzmarkt und Investitionsparadies, zu eng ist es als Pufferzone in das europäische Migrationsregime eingebunden.

Yordi Berhanu findet, hier kann man eigentlich nicht mehr leben. «Die Leute, die dieses Land einmal geliebt haben, geben auf. Und wenn du dich mit ihnen zusammentust, um darüber zu reden, stellt dir die Regierung nach. Vielleicht verhaften sie dich. Vielleicht machen sie dir das Leben aber auch nur so unbequem, dass du die Stadt so schnell wie möglich verlassen möchtest.»

Nicht die Stadt, sondern den Horizont erweitern

In Arat Kilo brummen die roten Baustellen-LKWs. Aufgrund der hohen Unfallrate werden sie zynisch «Roter Terror» genannt, nach der Kampagne, mit der die Regierung Mengistu politische Gegner_innen verfolgen und ermorden ließ.

Jeden Tag, wenn wir in Mimi Workalemahus Restaurant kommen, sieht die Straße schon wieder anders aus, ist ein weiterer Abschnitt aufgerissen, sind Asphaltierungsarbeiten im Gange. Bisrat Kifle kann der Entwicklung der Stadt prinzipiell was abgewinnen: «Natürlich wollen wir adäquate Infrastruktur, wir wollen öffentlichen Verkehr, Schulen, Trinkwasserversorgung. Aber man darf nicht den Fehler machen, die informellen Siedlungen für ein Chaos zu halten, dessen Abriss Teil der Lösung ist. Das Informelle hat Struktur, und diese Strukturen gilt es zu erhalten.» Auch Koki Tessema*, eine feministische Künstlerin, die uns an der ALE durch ihre Ausstellung führt, bestätigt, dass die Stadt Entwicklung braucht. «Aber es sind nicht die Straßen, die Häuser und die Städte, die wachsen müssen, sondern unser Horizont.»

Die Interviews führten Lisa Bolyos, Tobias Zortea und Alexander Behr.

* Namen von der Redaktion geändert