Es fasziniert – und es wuchertvorstadt

China-Schilf und Klimawandel stoppen die Schilfschneiderei

Die typischste Pflanze Pannoniens ist das Schilf. Die verschilfte Zone des Neusiedlersees umfasst 180 Quadratkilometer. Das Schilf ist d i e Attraktion der österreichischen Steppenlandschaft. Aber was für die einen attraktiv ist, ist für andere ein Ärgernis. Robert Sommer (Text und Fotos) erfuhr das auf dem Radweg zwischen Rust und Mörbisch.Gärtnerinnen und Gärtner wissen es längst: Schilf ist aggressiv. «Hallo! Wer kann mir weiterhelfen? Vor fünf Jahren wuchs ganz von selber eine Schilfpflanze zwischen Carport-Mauer und Teerboden. Anfangs war es schön anzusehen, da es ein prima Sichtschutz ist. Mittlerweile hat sich der Schilf auf einem Streifen von 4 Meter auf 15 cm ausgebreitet und wächst schon durch den Teer durch», bemühte ein blutiger Laie eines der Frage-Antwort-Portale im Internet. «Sorge dafür, dass die Pflanzen sich totwachsen, mähe sie also alle vier Wochen bis auf den Boden ab oder reiß sie immer wieder aus», antwortete ein in Sachen Schilf Berufener.

Inzwischen wird sich unser verzweifelter Carport-Besitzer kundig gemacht haben. Vielleicht hat er in einem Nachschlagewerk folgende Information gefunden: «Schilf bzw. Schilfrohr ist eine Süßgräserart, die in verschiedenen Arten weltweit vorkommt. In ihrer Hauptwachstumszeit kann die Sumpfpflanze an einem Tag bis zu drei Zentimeter wachsen und erreicht in Europa eine Höhe bis zu vier Meter. Aufgrund ihres Wurzelkriechverhaltens ist die Pflanze ein aggressiver Verlandungspionier, der u. U. die übrige Vegetation vollständig verdrängt.»

Manche Grundbesitzer_innen im Seevorland des Neusiedler Sees sind nicht frei von Aggressionen, wenn sie die Resultate dieses ominösen Wurzelkriechverhaltens überschauen. Radfahrtourist_innen, die nach mehreren Jahren Neusiedler-See-Abstinenz endlich wieder den Seerundradweg benützen, sind erstaunt über die Präsenz des Schilfs, wo vor Jahren noch Weiden oder grüne Wiesen, mit Obstbäumen bestückt, irreversibel die Ausbreitung des Schilfgürtels zu stoppen schienen. An der fünf Kilometer langen Radwegstrecke zwischen Rust und Mörbisch lässt sich das verdrängerische Wesen des Neusiedlersee-Schilfes erkennen – dort, wo er Obstbäume zu ersticken erscheint und wo selbst nicht mehr bewirtschaftete Weingärten sich dem Imperium des Schilfes ergeben. Die Weingärten liegen an der seeabgewandten Seite des Radweges, dort, wo vor einigen Jahren noch kein Rohr zu sehen war. Das wuchernde Ding mit der gelehrten Bezeichnung Phragmites australis hat das Asphaltband mit Leichtigkeit übersprungen.

(zwiti) Dommel, Reiher, Taucher …

Naturgemäß können die kleinen Grundbesitzer_innen oder -pächter_innen aus den Seegemeinden Rust und Mörbisch, die sich im Kampf gegen das wuchernde Schilfrohr befinden, ihren Fokus nicht auf die idyllische Seite des Schilfrohrs lenken. Zweifellos lebt die faszinierende Kulturlandschaft des Neusiedler Sees, innerhalb oder außerhalb der Nationalparkgrenzen, von der (aus alpenländischer Sicht) fundamentalen Exotik des Steppensees und seiner Besonderheit, dem zum Teil fünf Kilometer breiten Schilfgürtel. Es handelt sich – nur vom Donaudelta geschlagen – um die zweitgrößte zusammenhängende Schilffläche in Europa. Geführte Bootsfahrten durch die künstlichen Kanäle, die durch den Schilfgürtel geschlagen wurden, zählen zu den Erlebnissen, die dem verblüffenden Einbruch des Unvertrauten in den landläufig bekannten Kulturlandschaftskatalog Österreichs geschuldet sind. Unvertraut in seiner Mannigfaltigkeit (zumindest für den aus dem Alpenvorland stammenden Schreiber dieser Zeilen) ist auch die Vogelwelt, die das Röhricht des Steppensees okkupiert hat. Zwergtaucher, Zwergscharbe, Rohrdommel, Silberreiher, Purpurreiher, Moorente, Rohrweihe, Wasserralle, Bartmeise – das ist nur eine kleine Auswahl der hier brütenden Populationen. Einige Arten haben nirgends in Europa eine größere Population als hier in der ungarisch-österreichischen Grenzregion.

Die derzeit günstigen Bedingungen für die außergewöhnliche Aggressivität der Leitpflanze der Neusiedler-See-Region sind zum Teil von der Natur vollbracht, zum Teil vom Menschen gemacht, zum Teil aber auch durch die Kombination von natürlichen und sozialen Ursachen hervorgerufen.

Der Anteil des Natürlichen: Der derzeitige Wasserstand des Neusiedler Sees liegt zehn bis fünfzehn Zentimeter über dem langjährigen Mittelmaß. Das heißt auch, dass die Äcker und Weingärten, die direkt am See liegen, schon in geringster Tiefe ausreichend Wasser bieten, um das Schilf an Land zu locken. Herr Haberhauer, ein Winzer aus Rust, wundert sich deshalb, warum auf diesem flachen, seenahen Boden, bestens durch hohes Grundwasser getränkt, überhaupt Weingärten angelegt wurden; Wein sei doch eher was für sonnseitige Hänge als für den Sumpf. «Die wirklich qualitätsbewussten Winzer meiden diesen Sumpf», meint Ruth Hartmann, die geführte Naturspaziergänge für Mörbisch-Urlauber_innen anbietet (www.natur-ruth.at). Ihr Vorschlag für schilfresistente Nutzung des Seevorlandes: biologisches Gärtnern.

(zwiti) Billigstes Schilf aus China

Der vom Menschen gemachte Grund: Die jährliche Schilfernte, einst fast flächendeckend praktiziert, verhinderte das Ausbreiten des Schilfs. Zwischen November und 15. März hatten die Schilfschneider Hochsaison am Neusiedler See. Genau das ist der Zeitraum, in dem die röhrichtbildende Pflanze geschnitten wird. Noch vor 30 Jahren ernährte der Beruf des Schilfschneidens hunderte burgenländische Familien. Sie waren Arbeiter der rund ein Dutzend Firmen, die die Esterházy-Dynastie, Eigentümerin des Neusiedler Sees (mit Ausnahme eines kleinen Teils, den eine Gemeinschaft von Mörbischer Bauernfamilien besitzt) als Verarbeiter ihres gräflichen Schilfrohrs zuließ. Noch in den 1950er-Jahren war Mörbisch am Höhepunkt der Erntezeit wie ausgestorben: Alle waren im Schilf. Der Ort wurde mehr durch das Schilf als durch den Wein reich. Die kuriosen «Indianerdörfer» zwischen Rust und Mörbisch, Ansammlungen von wie Zelte ausschauenden Kegeln aus Bündeln geschnittenen Schilfes, suggerieren auch heute noch eine intensive Bewirtschaftung des Schilfgürtels. Der Eindruck täuscht. Der Großteil des Schilfs bleibt inzwischen ungeschnitten. Ein Bund Neusiedler-See-Schilf müsste mindestens vier Euro kosten, damit ein Schilfschneider (heutzutage in der Regel ein ungarischer Saisonarbeiter), der ja nur im Winter arbeitet, zumindest in dieser Jahreszeit überleben kann. Tatsächlich kriegt er höchstens 1,50 Euro pro Bund plus 50 Cent Frachtkosten – während chinesisches Schilf schon um 1,10 Euro zu haben ist. Auch in Sachen Schilf gewinnt die chinesische Ökonomie den globalen agrarwirtschaftlichen Wettbewerb.

«Ich bin der Letzte, der noch davon leben kann», sagt Herr Sumalowitsch, Schilfschneider aus Podersdorf. Er hat 3500 Hektar Esterházy´sche Schilffläche gepachtet und stellt hauptsächlich Dachschilf und Isolierplatten her, die er nach Deutschland, Großbritannien, Frankreich, Dänemark und die Niederlande exportiert.

Zuletzt der von der Natur in Kombination mit dem Menschen gemachte Faktor, der das Wuchern der Steppenpflanze erleichtert: Es gibt keine «richtigen» Winter mehr am Neusiedler See. «Also gibt es kein Eis mehr auf der Seeoberfläche. Und es wird wohl auch in Zukunft kaum mehr welches geben», klagt Sumalowitsch. Er nennt ihn nicht, aber er deutet ihn an: den Klimawandel, der – wie auch Schilfschneider wissen – sich in Bezug auf ihren Beruf wie ein großer Saboteur benimmt: Er entzieht dem Schilfgürtel die Eisdecke, die für die Ernte des Schilfes ideal wäre. Nur wenn der See zufriert, können die Erntemaschinen optimal eingesetzt werden. Schilf, das nicht geschnitten wird, breitet sich leichter aus. Wenn es stehen bleibt, ist es aber auch um seine stoffliche Qualität geschehen. Schilf ist eine einjährige Pflanze und muss, damit sie nachwächst, jedes Jahr geschnitten werden. Passiert dies nicht, wächst kein neues nach – und altes Schilf kann nicht verarbeitet werden.

Vielleicht sorgt der von Menschen gemachte Klimawandel dafür, dass der Neusiedler See schneller austrocknet als vom natürlichen Rhythmus her vorgesehen. Dann wäre das Problem Schilfwuchern gelöst. Das wäre freilich kein Trost für die Burgenländer_innen. Die hätten sich einmal mehr für die Massenflucht aus dem unwirtlich gewordenen Landstrich entschieden …