Forschungsreisen mit dem Transportervorstadt

«Stop and Go»: Verkehrsverbindungen zwischen Ost und West

Die Knotenpunkte von Straßenkorridoren zwischen «Ost-» und Westeuropa untersuchen die beiden Architekten und Mobilitätsforscher Michael Hieslmair und Michael Zinganel in Theorie und Praxis. Reinhold Schachner besuchte die beiden in ihren Projekträumen am Gelände des Nordwestbahnhofs.

Foto: Hieslmair & Zinganel

«Ich brauche den Autoschlüssel vom kleinen Wagen» lässt Michael Zinganel seinen Kollegen Michael Hieslmair wissen. Zinganel und Hieslmair sind Architekten, Erstgenannter ist darüber hinaus auch noch Historiker. Seit 2014 leiten sie das Forschungsprojekt «Stop and Go. Modes of Transformation and Transition» an der Akademie der bildenden Künste. Sie fahren dafür auch viel herum, u. z. auf den Straßenverkehrskorridoren in einem geografischen Dreieck zwischen Wien, der estnischen Hauptstadt Tallinn und der bulgarisch-türkischen Grenze. Oder für den Pressetermin mit dem Augustin am Gelände des Nordwestbahnhofs, aber im «kleinen» Privatauto, denn mit dem Dienstwagen, einem Transporter, fährt Michael Hieslmair gerade weg zu einer Brauerei, da am nächsten Tag eine Ausstellung inklusive Film- und Grillabend zu eröffnen ist. Grillen am Gelände eines Wiener Bahnhofs!? – Kaum zu glauben, dass das heutzutage noch möglich ist. Aber das ist nicht nur ein Spleen der Mobilitätsforscher, später wird sich noch zeigen, dass auch die ÖBB-Mitarbeiter_innen in ihrem Aufenthaltsbereich einen Grill stehen haben.

Der Anlass meines Besuches ist die von Hieslmair und Zinganel kuratierte Ausstellung «Road*Registers. Aufzeichnungen mobiler Lebenswelten» in der Akademie der bildenden Künste, genauer in den «auratischen x hibit-Räumen», wie sie im Ausstellungsfolder schreiben. Das Nordwestbahnhof-Gelände ist gewissermaßen der Nebenschauplatz der Schau. Dort haben sie auch im Sinne von «on site», im «Testfeld Mobilitätsalltag» ihre Projekträume. Klingt gestelzter, als es tatsächlich ist.

Die angekündigte Rundfahrt auf dem Areal des Nordwestbahnhofs verzögert sich ein wenig, denn Michael Zinganel will noch kurz auf die für ihre Forschungsarbeit wichtigen Referenzautoren eingehen, weil diese in der Schau «Road*Registers» nicht wiedergegeben werden können, außer vielleicht mit «einem sehr gescheiten Kuratorentext». Und auf einen solchen konnte er offensichtlich verzichten. Sein «kurzer» Exkurs endet schließlich rund eine Stunde später mit dem Thema Nickelsdorf, wo sich Hieslmair und Zinganel mit der logistischen Herausforderung der Flüchtlingsbetreuung beschäftigten.

Als ersten Referenzautor nennt Zinganel «logischer Weise den Godfather linker Stadttheorie» Henri Lefebvre, es folgt der «umstrittene» Bruno Latour mit seiner Netzwerktheorie, umstritten, «weil er im Gegensatz zu [Michael] Hardt und [Antonio] Negri keine optimistische Option verspricht». «Ein weiterer in unseren Kreisen unbeliebter Autor ist der Osteuropa-Historiker Karl Schlögel, denn er schreibt sehr großvaterisch.» Doch seiner These, dass die Kleinhändler_innen die europäische Wiedervereinigung hergestellt hätten, ungeachtet dessen, was die EU an Phantasien entwickle, könne er etwas abgewinnen. Diesen Kleinhändler_innen seien nämlich die Grenzen relativ egal. Eine Grenze erhöhe nur den Verkaufspreis. Sie würden in stabilen Netzwerken agieren, wo der die Hand aufhaltende Zöllner dazugehöre. Daran könne auch Frontex nichts ändern.

«Künstlerideen sind kontraproduktiv»

Hieslmair und Zinganel verwenden für ihre Forschungsfahrten nicht das gleiche Fabrikat wie die südosteuropäischen Kleinhändler_innen, den Mercedes Sprinter, sondern den in Händler_innenkreisen milde belächelten Ford Transit. Ein Gebrauchter ist selbst für ein Forschungsduo erschwinglich, davon abgesehen kann man mit dem Modellnamen «Transit» kokettieren. Sie hätten aber den Fehler begangen, den Wagen von einem befreundeten Grafiker gestalten zu lassen. «Als das Auto noch schiach gewesen ist, sind wir an den Grenzen immer durchgewinkt worden.» Michael Zinganel zog daraus die Lehre: «Man muss sich gescheit assimilieren, Künstlerideen sind dabei kontraproduktiv!» Der Transit wird auch als mobiles Labor für Workshops und als Zugfahrzeug für einen Bootsanhänger, der zum «Objektträger» umfunktioniert wurde, verwendet, wie beispielsweise bei der Biennale in Tallinn.

Tallinn wird neben Bulgarien und Wien im Rahmen von sogenannten «Case Studies» erforscht, und diese bilden wiederum den zentralen Teil von Road*Registers. Diese Untersuchungen zielen auf die Veränderungen im postsozialistischen Raum in puncto Mobilität und Migration. Im Laderaum des Transit landete daher ein Architekturmodell der SO-MAT-Station Svilengrad, das jetzt auf der Akademie zu sehen ist. Das bulgarische Unternehmen ­­

SO MAT errichtete in ganz Europa (mit einer wichtigen Niederlassung in Wien) und im Nahen Osten ein Transport-Netzwerk, und im Windschatten davon errichteten die SO-MAT-Fahrer_innen ein Schmuggelnetzwerk – quasi als Kompensationshandlung zum niedrigen Lohn. Was gerne geschmuggelt wurde, ist – bis auf die Pornohefte – in Road*Registers zu sehen.

Schauen wir etwas nördlicher, nach Wien. Die «Case Study Wien» beinhaltet die Geschichte seiner Busbahnhöfe. In den 60er- und 70er-Jahren sei das Busfahren noch relativ modern gewesen, aber mit der Gastarbeiterwelle hätte sich das Image gewandelt, erläutert Michael Zinganel. Überspitzt formuliert: Die Reisebusse seien ursprünglich im ersten Bezirk weggefahren, es folgte Wien-Mitte, gleichzeitig seien die Gastarbeiter am Südbahnhof, der nie eine spezifische Businfrastruktur geboten hätte, angekommen. Die nächste Image-Korrektur nach unten setzte 1989 mit der Ostöffnung ein. «Zur selben Zeit begann die ÖBB», so Zinganel, «nach deutschem Vorbild mit der Bahnhof-Gentrifizierung.» Gentrifizierungsopfer sind bekanntlich der Bahnhof Wien-Mitte und der Südbahnhof. Das Unternehmen Blaguss eröffnete folglich in Erdberg unter der Tangente, an einem «Nicht-Ort», einen Busbahnhof. Mittlerweile sei Busfahren aber wieder cool, meint der Mobilitätsforscher und erzählt, dass viele Gäste des Song-Contests mit dem Bus nach Wien gekommen seien. Diese würden Erdberg als Teil des Adventures betrachteten.

Abenteuerliche Geschichten sind auch aus Tallinn, der dritten Case Study zu vernehmen. Diese betreffen aber nicht Bus-, sondern Fährschiffpassagiere, die aus Finnland insbesondere des günstigen Alkohols wegen in die estnische Hauptstadt reisen. Die Schau zeigt unter anderem einen Einkaufstrolley, der gerne für die Rückreise mit Alkohol beladen wird. Die Kostenersparnis gegenüber dem Einkauf in Finnland wiegt die Ausflugskosten auf. Dieser Verkehrskorridor auf dem Wasser bietet aber auch den Est_innen Vorteile in Sachen Arbeitsmigration. In Finnland könne man in einer Saison das estnische Jahresdurchschnittsgehalt verdienen, so Zinganel.

 

Hohe Mobilitätskompetenz

Zurück zum Nordwestbahnhof. Die Mobilitätsforscher haben mit den ehemaligen Büroräumen einer Spedition die perfekte Immobilie für ihre Projekträume gefunden. Ursprünglich hätten sie es in Erdberg, im Gebäude, wo auch die Wiener Linien mit ihrem Kundencenter untergebracht sind, versucht, doch die Miete sei nicht leistbar gewesen, erzählt Michael Zinganel. Im Endeffekt ein großes Glück, nicht in Erdberg gelandet zu sein, auch wenn mit dem Busbahnhof ein Objekt ihrer Forschung vor ihren Füßen gelegen wäre. Jetzt am Nordwestbahnhof seien sie inmitten «hoher Mobilitätskompetenz», schwärmt Michael Zinganel, der sich hier sichtlich wohl fühlt. «Wahrscheinlich weiß hier niemand, womit ich mich beschäftige, aber ich werde akzeptiert, ich kann mich frei am Gelände bewegen.» – Und braust mit dem Privatauto in die nächste Ladestraße.

Bis zum 6. 11. in der

Akademie der bildenden

Künste bei freiem Eintritt.

https://www.akbild.ac.at

Am 14. und 28. 10. und am 11. 11.

jeweils um 16 Uhr Kuratorenführung

durchs Areal am Nordwestbahnhof.

Näheres unter:

http://stopandgo-transition.net