Herthas gewagte Investitionvorstadt

Favoritens fußballerische Frühzeit

Vor 100 Jahren hat Hertha Wien einen Fußballplatz in der Quellenstraße errichtet, auf dem Geschichte geschrieben wurde. Heute ist der Verein längst vergessen und das Stadion verschwunden. Was ist passiert, fragt sich Hannes Gaisberger?

Foto: Bezirksmuseum Favoriten

«Als Aktivum dieses Kriegsjahres bleibt zu verzeichnen, daß ein Verein, Hertha, sich trotz der widrigen Umstände einen neuen Sportplatz zu erbauen vermocht hatte. Der neue Platz in der Quellenstraße im X. Bezirk spielte im weiteren Fußballmittelalter noch eine große Rolle.» Dieses Zitat aus der unverzichtbaren «Geschichte des österreichischen Fußballsports» von Karl Langisch brachte mich hierher, an die Ecke Quellenstraße und Steudelgasse. Weht hier noch der Hauch des Weltklassefußballs durch die Gassen, den sich die lokalen Heroen Sindelar und Bican auf den Gstättn und Plätzen genau hier angelernt haben?

Heute zeigt sich der 10. Bezirk an dieser Stelle als stark und vor allem streng geometrisch verbaute Gegend. Wuchtige Gemeindebauten dominieren das Bild, erst gegen Simmering hin gibt es Freiflächen und Wildwuchs. Früher gab es neben der Brotfabrik eine «Mistgruam» genannte kommunale Müllhalde und «die Unbehausten fanden ihre Sommerquartiere in Erdhöhlen, Holzverschlägen oder im Dickicht der Gebüsche des Laaer Waldes». So steht es in den Favoritner Museumsblättern #29 «Matthias Sindelar. Ein Kind aus Favoriten», die ich vom Autor Walter Sturm persönlich erstanden habe.

Global gefragtes Bezirksmuseum

Die fußballerischen Früchte der Quellenstraße lassen dem engagierten Mitarbeiter des Bezirksmuseums Favoriten keine Ruhe. Zuletzt stand er in regem Kontakt mit einem jungen Argentinier, der ein Buch über den damaligen Weltstar Sindelar – Kapitän des Wunderteams und Österreichs Fußballer des Jahrhunderts – schreiben will. Er hat Herrn Sturm in Wien besucht, und wenn das Buch fertig ist, soll er wieder kommen. Falls ich nach der Lektüre der 54-seitigen Broschüre noch Fragen habe, könne ich auch gerne wieder kommen, so Sturm.

Zu Beginn des 20. Jahrhunderts haben weder die Austria noch der FavAC den Ton in Favoriten angegeben. Das Bezirksderby trugen die zwei ältesten Vereine des Bezirks aus: Rudolfshügel und Hertha. Hertha hat sich 1904 von den zwei Jahre früher gegründeten Rudolfshüglern abgespalten. Beide Clubs spielten lange Zeit in der höchsten Spielklasse und sind Gründungsmitglieder der ersten offiziellen Fußballmeisterschaft Österreichs 1911/12. Wenn sie gegeneinander spielten, wurde das «Favoritner Championat» ausgemacht. Die Rivalität im Bezirk hat das Sport-Tagblatt 1926 folgendermaßen beschrieben: «Die Gegend rechts der Favoritenstraße ist die Interessensphäre Rudolfshügels, und was links von der Favoritenstraße haust, schwört zum Banner der Hertha. Die Spieler, die Funktionäre gehören annähernd den gleichen Schichten an, es besteht also gar kein Grund zu Zwietracht und Hader, aber trotzdem können die beiden Vereine nicht zusammenkommen …» Mit «den Schichten» war nicht zuletzt die tschechische Minderheit gemeint. Sie hat vor 100 Jahren das Gros der zugewanderten Hilfsarbeiter_innen gestellt, die in den zahlreichen Fabriken der Vorstadt beschäftigt waren.

Sindelars Aktionsradius

Matthias Sindelar war offensichtlich ein Mann der kurzen Wege. Sein Elternhaus, besser gesagt die kleine Wohnung, die die Zuwandererfamilie aus Mähren seit 1905 gemietet hat, ist auf Quellenstraße Nr. 75. Direkt daneben, Nr. 73, die Volksschule. Seine Lehrstelle war nur einen kurzen Spaziergang Richtung Simmering entfernt, die Karosseriefabrik Schafranek auf Nr. 55. Hier tut sich heute eine Lücke in der historischen Bausubstanz auf, und einem UFO gleich steht das gläserne Verwaltungsgebäude einer Bank im Karree. Schräg gegenüber der Sindelars, Quellenstraße 24, hat die Hertha Wien vor 100 Jahren inmitten der Kriegswirren ein neues Stadion hingestellt. Es waren schlechte Zeiten. So schlecht, dass man die «Mistgruam» zugeschüttet hat, um dort Gemüse anzubauen.

Der Sp.C. Hertha, wie man das damals schrieb, war auf der Suche nach einer neuen Heimstätte. Die alte hatte das Militär zu Kriegsbeginn in Beschlag genommen, danach musste man sich gar den Platz mit Rudolfshügel teilen. Nun wurde die Anlage auf der Steinmetzwiese vakant, jener legendären Gstättn, auf der viele Favoritner Fußballheroen ihre ersten Matches spielten und der FavAC seinen Platz hatte. Für rund 900 Millionen Kronen (fragen Sie bitte nicht, was das inflationsbereinigt in Euro macht) hat sich die Hertha ein Stadion nach neuestem Standard hinstellen lassen. Zeitgenössische Zeitungsberichte loben die großartige Sicht dank schlanker Säulen, die übersichtliche Böschung für die Stehplätze und das praktische Dach gegen Regen und Sonne auf den Sitzplätzen. Nach einer Erweiterung nur vier Jahre später soll die Kapazität auf 30.000 Plätze angewachsen sein. Ein Boxring und Leichtathletikanlagen sowie eine Laufbahn komplettierten das Ensemble. Das Sport-Tagblatt war voll des Lobes: «Das Spielfeld, früher eng und durch die Zuschauerräume gedrückt, liegt nun frei. Nichts hindert den Blick, kein noch so weit vorgestreckter Spazierstock kann einem Spieler zwischen die Beine kommen, sondern wer laufen kann, für den gibt es kein Hindernis.» Das riskante Investment des Präsidenten Ratzl, der noch dazu ein Jahr später verstarb, hat sich nie ausgezahlt.

Hertha verschwindet

Chronisch verschuldet und an einem Überangebot an Fußball in Favoriten leidend, war Hertha gezwungen, die besten Spieler ziehen zu lassen. So wie Matthias Sindelar, der hier im neuen Stadion seine Entwicklung vom Gassenkicker zum Profispieler durchlaufen hat, aber nach sechs Jahren zu den finanzkräftigen Amateuren nach Ober St. Veit wechselte. Sein Lebensmittelpunkt blieb aber die Quellenstraße Nr. 75, ein heute graues, kleines Haus. Die Schwester von Sindelar soll damals die Spiele des Bruders stets mit Freunden vom zweiten Stock aus beobachtet haben. Es soll nun renoviert werden und ein ausgebautes Dachgeschoss bekommen. Eine gute Aussicht aufs Spielfeld gibt es aber nicht mehr. Kurioserweise gleichzeitig mit Rudolfshügel wurde den überschuldeten Ve­reinen im Februar 1928 von der Stadt die für den Wohnbau benötigten Grundstücke entzogen. 1940 stellte die Hertha den Spielbetrieb ein, sechs Jahre nach Rudolfshügel.

Das große Grundstück wurde aufgeteilt in Quellenstraße 24A und 24B. Wo früher das Stadion war, ist nun 24B, der 1931 fertiggestellte Hueber-Hof. Die massive Fassade an der Quellenstraße lässt den Gedanken an ein 30.000-Zuseher-Stadion im Bauch des Hofs aufkommen. Aber es ist ein Gemeindebau, ein massiver noch dazu, und absolut nichts erinnert an die Existenz der Hertha und ihres Stadions. Früher sollen die Anrainer_innen den Hueber-Hof noch liebevoll Hertha-Hof genannt haben. Die Hertha kennt heute keiner mehr. Dabei gäbe es so viel über sie zu erzählen. Wir haben ja nicht einmal über den genialen Pepi Bican gesprochen, der auch in der Quellenstraße aufgewachsen ist. Er hat im Nachwuchs der Hertha gespielt und wurde zu Tschechiens beliebtestem Spieler des Jahrhunderts gewählt. Sein Vater hat sich im Herthadress den Tod geholt. Aber das ist wirklich eine andere Geschichte.