„Hundert geht sich aus“vorstadt

Lokalmatador

Gerhard Reissner: Mit 85 noch fit wie ein Turnschuh. Sport wurde sein Lebenselixier.Gerhard Reissner tritt in die Pedale des Ergometers. Jeden Dienstag, jeden Freitag. Seit seiner Pensionierung vor zwanzig Jahren. Mit 65 nahm der Handelsreisende „schweren Herzens“, wie er betont, Abschied von seinem Beruf. Im Ruhestand angelangt, begann er sich zum ersten Mal in seinem Leben so richtig zu bewegen.

„Ich habe etwas gesucht, um nicht sofort zu verkalken“, erzählt Reissner beim Einradeln. Über Umwege kam er in das kleine ASKÖ-Fitnesscenter auf der Schmelz in Wien 15. Dabei fällt auf, dass der Old Boy (Jahrgang 1918!) in der Herz-Kreislauf-Traingsgruppe noch immer leichtfüßig sein Wochenpensum herunter spult.

Reissner ist der Beweis dafür, dass man auch noch mit 85 Pläne haben kann. „Ich möchte zwanzig Jahre lang achtzig bleiben“, erklärt er. Vorbereitet auf den einen oder anderen skeptischen Blick, fügt er ohne Schnaufen hinzu: „Ich bin ja nicht anmaßend und sage, dass ich 110 werden will. Ich sage nur hundert, weil hundert geht sich aus.“

In seiner Trainingsgruppe gilt der Methusalem unter Wiens Gesundheitssportlern auch als Stimmungsmacher. Auf dem Radsattel und später bei der Gymnastik auf der Matte blüht er so richtig auf. Er war auch einer der ersten Wiener, die sich für das speziell für ältere Menschen angebotene Herz-Kreislauf-Training anmeldeten.

Der erste Kurs startete im Jahr 1983. Die Teilnehmer kamen sich schnell auch privat näher. Freundschaften entstanden, einige bestehen bis heute. Man traf sich nicht nur zum gemeinsamen Training, man ging auch gemeinsam wandern und gemeinsam essen, wenn Weihnachten war oder einer einen runden Geburtstag feierte.

„Wir haben eine Zeitlang praktisch jedes Wochenende gemeinsam etwas unternommen“, erzählt Herr Reissner. Ein Bild in seinem Foto-Album zeigt ihn als Jungpensionisten auf einem extrem schweren Zimmerfahrrad, auf einem anderen Bild ist eine Menschentraube zu sehen, die gerade einen Berg erklommen hat.

Für den spät gestarteten Sportler war die körperliche Betätigung im Verein mit anderen besonders wichtig. Die Gruppe half ihm, fehlende Erfahrungen wettzumachen. Bis zu seiner Pensionierung fand er nämlich nie die Gelegenheit, etwas für seinen Körper zu tun.

Die ersten zehn Jahre seines Lebens verbrachte Gerhard Reissner mit seinen Eltern in Wolfpassing bei Tulln. Dort gab es keinen Sportplatz und keinen Turnunterricht. Tatsächlich waren zu jener Zeit Fußballer und Turner noch nicht in die Tiefe der Provinz vorgedrungen. Ihren Bewegungsdrang mussten die Buben aus dem Dorf anderswo ausleben: „Wir waren viel im Wald und haben Indianer gespielt.“

Nach der Übersiedlung nach Wien konnte der Indianer aus NÖ immerhin am Turnunterricht teilnehmen. Die regelmäßige Sportausübung blieb ihm jedoch weiterhin versagt. 30er Jahre – Wirtschaftskrise. Seine Eltern, erinnert er sich, hätten damals andere Sorgen gehabt.

Mit 15 musste er die Schule verlassen, um selbst Geld zu verdienen. Als Lehrling in einer Drogerie schleppte er so viele Koffer und Rucksäcke durch Wien, dass er abends todmüde ins Bett fiel. Dann kam der Krieg und der Einberufungsbefehl. Und wieder fragte niemand, ob er nicht Lust hätte, zum Ausgleich und zum Vorbeugen von Krankheiten ein bisserl Sport zu betreiben.

Weiter radeln. Es ist, als würde der Pensionist jetzt im Alter alles nachholen. Die Farbe in seinem Gesicht signalisiert Gesund- und Zufriedenheit. In seiner Jugend hat er es nicht leicht gehabt. Nach dem Krieg hat sich Reissner dennoch gut zurechtgefunden: Zunächst als Inhaber einer eigenen Handelsvertretung, später als angesehener Vertreter einer großen Pharmazeutikfirma.

Beinharten Geschäftsleuten wie zum Beispiel Billa-Gründer Karl Wlaschek saß er am Verhandlungstisch oft gegenüber. Und sein einziger Sport bestand darin, sich von seinen Kontrahenten nicht über den Tisch ziehen zu lassen. Gewiss, ein Kraftakt, wenngleich mehr für die Nerven.

Heute ist Reissner auch der lebende Beweis dafür, dass die Appelle der Sportärzte nicht aus der Luft gegriffen sind. Es ist nie zu spät, mit dem Sport zu beginnen: Den Slogan des Fonds Gesundes Österreich könnte auch Wiens ältester Herz-Kreislauf-Aktivist erfunden haben.

Vor zwanzig Jahren begann er mit einer Pulsfrequenz von 125 zu trainieren. Im Laufe der Zeit hat er die Belastung auf Anraten des Arztes schrittweise reduziert. Heute ist Reissner bei 75 angekommen und darf damit noch immer sehr zufrieden sein.

Der Senior mit der großen Vorbildwirkung tritt wieder einmal in die Zielgerade. Stolz erzählt er nach dem Training, dass er im Sommer mit seiner Frau auf der Rax oben war. Auf die Frage, was ihm die zwanzig Jahre Sport persönlich gebracht haben, antwortet er wie aus der Pistole geschossen: „Dass ich noch immer mitmachen kann.“ Und nach einem kurzen Blick hinüber, zur langjährigen Begleiterin an seiner Seite: „Und dass ich dabei mit meiner lieben Frau mithalten kann.“ Die ist nämlich zehn Jahre jünger als er.

Nähere Informationen zum Herz-Kreislauf-Training und zur Aktion „Fit komm mit“ beim ASKÖ-Referat für Fitness und Gesundheit: (01) 869 32 45-15/16.

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