Nützliches Eisenvorstadt

Wider die Dreckklumpen an den Schuhsohlen

Im Landesinneren von Bulgarien hat nicht zuletzt der gute alte Schuhabkratzer überlebt. Wenzel Müller (Text und Fotos) ist ihm in Medowina auf Schritt und Tritt begegnet.Wer Bulgarien als Urlaubsziel wählt, fährt gewöhnlich an die Schwarzmeerküste. Sonne, Sand, Meer, und das zu höchst attraktiven Preisen. Allerdings reiht sich hier ein Hotelkomplex an den anderen. Eine recht gesichtslose Gegend also.

Nur 100 Kilometer von der Schwarzmeerküste entfernt, im Landesinneren, in Medowina, erlebt man ein ganz anderes Bulgarien. Normalerweise verirrt sich kein Reisender in dieses 800-Seelen-Dorf. Wer es dennoch tut, aus welchen Gründen auch immer, glaubt eine Zeitreise in die Vergangenheit zu machen. Pferdewagen auf der Straße, manchmal ist gar ein Esel vorgespannt, die Einwohner_innen nutzen ihren Garten, um extensiv Gemüse und Salat anzubauen. Vor fast jedem Eingang der Häuser, links oder rechts davon wie für alle Ewigkeit in den Boden eingelassen, ein Eisen, das es auch bei uns einmal gab, doch inzwischen so gut wie nicht mehr gibt: der Schuhabkratzer.

Er wird hier Stagallo genannt. Nur selten ist er verschnörkelt, ist ja auch kein Kunst-, sondern ein Funktionsgegenstand, dazu bestimmt, die Schuhsohle des Eintretenden von allfällig mitgeführtem Dreck zu befreien.

Bedarf dazu war auch bei uns früher gegeben, damals, als die Wege noch unbefestigt waren. Der Schuhabkratzer war hilfreich – und gefährlich zugleich, stellte er doch eine veritable Stolperfalle dar, insbesondere für Bürger, die des Nachts, vom Wirtshaus kommend, auf wackligen Beinen und im schwachen Schein der Laternen sich nach Hause begaben, immer die Hauswand entlang.

Man wusste um diese spezielle Gefahr in Knöchelhöhe, und daher wurde der Fußabkratzer hier und da in die Hauswand eingelassen. Gerettet hat ihn das nicht. Irgendwann erübrigte er sich einfach, irgendwann waren an Schuhsohlen festsitzende Dreckklumpen nicht länger ein Problem, und der Fußabkratzer wurde obsolet, verdrängt von der Fußmatte, die dem feiner und kleinkörniger gewordenen Schmutz eher Herr wurde.

Medowina hat eine Durchfahrtsstraße, und die ist asphaltiert. Die von ihr abzweigenden Wege sind allerdings bestenfalls Schotterwege, die, je weiter man in die Randgebiete des Orts kommt, sukzessive in grüne Flächen übergehen, auf denen Kühe zwischen den Häusern weiden.

Der Sommer ist in diesem Teil Bulgariens heiß, da zieht jedes durchfahrende Auto eine Staubwolke hinter sich her. Der Winter kalt, da springt so manches Auto erst gar nicht an. Und die Übergangszeit niederschlagsreich – das ist jene Zeit, da der Untergrund seine feste Konsistenz verliert und der Stagallo sich als wertvoller, ja unentbehrlicher Helfer erweist.

Die Schuhsohle auf das Eisenteil gesetzt, ein kräftiger Ruck, ein hartnäckiges Schaben – und das Gröbste fällt ab, unten auf den Boden. Die nach oben ragenden seitlichen Spitzen des Stagallo dienen dazu, den in den Rillen festsitzenden Schmutz herauszuholen. Die Prozedur hat etwas Grobschlächtiges, effektiv ist sie allemal.

In Medowina ist es nicht allein der Schuhabkratzer, der den Reisenden an zurückliegende Zeiten erinnert. Das tut auch der Automechaniker, der den defekten Anlasser in alle Einzelteile zerlegt, statt ihn, wie bei uns inzwischen gang und gäbe, einfach auszutauschen. Und das tut auch der Esel, der schräg gegenüber dem Rathaus Tag für Tag in der Wiese weidet.

Medowina wäre freilich nicht ein bulgarischer Ort, gäbe es hier nicht ebenso die landestypischen Betonruinen, Bauten, die irgendwann begonnen, dann aber nicht zu Ende geführt wurden. Und da stehen sie nun wie vergessen, zu nichts nütze, und keiner schickt sich an, sie abzureißen.

Ein Blick in die Angebotsliste von Ebay zeigt: Bei uns feiert der Schuhabkratzer Renaissance, allerdings als schickes Accessoire. Und da liegt der Unterschied: In Bulgarien ist er ein Objekt der Nützlichkeit.