Sozialromantik & Wertekonfliktvorstadt

Über den Versuch der «Wilden Liga», Bohème und Rand zusammenzubringen

Eine «Wilde Liga» soll bohemehafte Ballester_innen mit Fußballsozialprojekten zusammenbringen. Aber nicht nur im Fußball, sondern überall im Alltag stoßen wir auf Werte urbaner Utopieträger_innen, die von den sozialen Außenseiter_innen oftmals nicht geteilt werden. Überlegungen von Robert Sommer.

Foto: Wenzel Müller

«Augustin-Feste haben was ganz Spezielles: Da stoßen Welten aufeinander, die sonst im städtischen Alltag kaum was miteinander zu tun haben.» Ich weiß nicht, wie oft ich dieses Kompliment in den 21 Jahren meiner Augustin-Zeit bereits gehört habe. Der Augustin, soziologisch betrachtet: eine Wertegemeinschaft? Vor zu viel Sozialromantik nützt das Wissen, dass die aufgeschlossene, weltoffene und aufnahmebereite Begegnung mit dem «Anderen» ein Luxus ist, der auf einer Sozialisation in einem materiell oft sorgenfreien, städtisch-toleranten Milieu beruht. Wer durch Schläge des Schicksals und der die Menschheit in Reiche und Arme spaltenden Ökonomie an den sozialen Rand des Systems geraten ist, hat andere Probleme, als gemeinsam mit den «Weltverbesserern» sich Utopien der Geld-, Gier- und Geizlosigkeit auszudenken. Der irrsinnige Druck, sich zu «integrieren», schafft eine Distanz zu den Werten und Kompetenzen der sich mit ihnen Solidarisierenden.

Die mangelnde Teilhabe am Tisch der Waren, die mindestsicherungsbedingten Einschränkungen in der Freiheit des Konsumierens werden von den betreffenden Personen oft durch eine Überanpassung kompensiert, die sich in der Vorliebe für Markenwaren äußert. Auch wenn sie diese aus chronischem Geldmangel in der Regel nicht erwerben können, ist ihr Wissen um die Vor- oder Nachteile der globalisierten Logos beeindruckend. In dieser Hinsicht lassen sie die Sozialarbeiter_innen und Redakteur_innen weit hinter sich. Im Sinne der Förderung der gemeinschaftsbildenden Aspekte des Augustin wird über das partielle Auseinanderdriften der Werte kein großer Wind gemacht.

Die Spürnase als Schlüssel zur Integration

Selbst das dicke Lob der Regionalpresse für einen rumänischen Augustin-Verkäufer, der sich vor der Hofer-Filiale in Pressbaum bei Wien zum erfolgreichen Privatsheriff gemausert hat, war kein Anlass, die Verschiedenartigkeit von Werturteilen zum Thema zu erklären. Die Würdigung des Kolporteurs, der bereits mehrmals «durch seinen Spürsinn» der Polizei geholfen hatte, Supermarktdieb_innen zu stellen, war denn auch den «Niederösterreichischen Nachrichten» eine bestplatzierte Reportage wert, nicht aber dem Augustin selber. Abseits der traditionellen Ordnungsstrukturen, an jenem Herzplatz, an dem auch der Augustin angesiedelt ist, hat man schon immer eine Schwäche für die kleinen Ladendiebe gehabt, umso mehr, je zorniger uns der Anteil der nach Geschäftsschluss in den Müll geworfenen Waren macht. In einer Periode, in der den führenden Medien zu den rumänischen Armutspendler_innen in Wien nur noch die Assoziationen Diebstahl, «aggressives» Betteln, Bettlermafia und Mindestsicherungsmissbrauch einfallen, ist dieses kooperative Verhalten für unseren Mann aus Pressbaum existenzsichernd; ihm diesen kleinen «Opportunismus» vorzuwerfen käme einem Zynismus gleich.

Zwei Anläufe zur Verbesserung des Fußballs

Als leidenschaftlich Involvierter kann ich mich an keinen Konflikt so erinnern wie an jenen, der auf dem wichtigsten Nebenschauplatz der Welt, auf dem Fußballfeld, ausgetragen wurde. Durch Vorschläge zur Verbesserung des Fußballspiels zuerst bei Schwarz-Weiß Augustin, dann in der Welt trat ich zwei Mal in den Schmalztopf, in dem ich heftig ausrutschte.

Das erste Mal tat ich es, als ich das von FIFA und UEFA verwaltete Regelwerk als von Menschen gemacht und durch Menschen daher jederzeit veränderbar erklärte. Ich schrieb damals (Nr. 237): «Neben dem Gurkerl, dem Austricksen des gegnerischen Spielers durch das Hindurchschieben des Balles zwischen dessen Beinen, zählt der Stangenschuss bzw. der Schuss auf die Querlatte zu den Gewürzen eines Fußballspiels – unentbehrlich für alle Romantiker des Ballesterns. Tore schießen ist Handwerk. Ins Lattenkreuz treffen ist die Poesie des Fußballs. Die Manager, die weltweit und in Österreich den Fußballsport zu einem kommerziellen Unternehmen mit markttauglichen Regeln machen, verstehen nichts von Poesie. Sie verstehen nichts von den seelischen Turbulenzen, die unter den Akteuren und im Publikum ausgelöst werden, wenn der Pfosten zittert durch einen Ball, der nicht ins Tor und nicht danebengegangen ist.»

Mein «revolutionärer» Vorschlag lautete also: Gewinnen sollte jene Mannschaft, der die meisten Stangen- und Lattenschüsse gelingen, und nicht jene, die die meisten Tore schießt. Diese Idee der totalen Umwälzung der Regeln aber wurde zum Gespött der Spieler des eigenen Teams. Ich bekam das Etikett «etwas weltfremd» umgehängt.

Im Augustin Nr. 280 radikalisierte ich meine Kritik an der überkommenen Fußballkultur. Mein Rat lautete, sich von den Erfahrungen des spontanen, anarchistischen, selbstorganisierten Strandkicks an den Badeküsten der brasilianischen Städte leiten zu lassen. Der brasilianische Literaturwissenschaftler José Miguel Wisnik hat diese präkommerzialisierte und präinstitutionalisierte Form des Kickens in «Lettre International» beschrieben: «Mit zwei Torkästen von etwa einem Meter Höhe zog sich das Spiel in endlose Längen, wobei kaum noch jemand an den Spielstand dachte, der weniger wichtig war als die Ballführung und der Kampf um den Ball – ein tolles Festival von Dribblings und dem Aufspüren außerordentlicher Pässe. Die Organisationsform dieser Art von Spielkultur war simpel: Wer zum Strand kam und sich einer der Gruppen näherte, die gerade dabei waren, zwei Mannschaften zu bilden, wurde dem Spiel durch ein Auswahlverfahren von Gerade und Ungerade zugeordnet. Wer zu einem Spiel kam, das schon im Gange war, am besten zu zweit, wurde nach dem Grundsatz ‹Einer auf jede Seite› im Allgemeinen zugelassen, bis zu einer Grenze, die zahlenmäßig eben noch akzeptabel schien.» Bei dieser Art Fußball gibt es also keine Sieger und Gewinner mehr, keine Resultate, keine Torverhältnisse, keine Siegesfeiern, keine Traumatisierung der Abgehängten. So wurde ich endgültig zur Unperson für die Augustin-Kicker, denen ich das Empowerment-Erlebnis eines Triumphs der Augustin-Mannschaft beim Obdachlosenturnier madigmachen wollte, wie behauptet wurde.

Der strukturelle Widerspruch der Wilden Liga

Doch die Welt ist wunderbar. Kaum in die Augustin-Rente geschickt, drang die Kunde von der im Gründungsprozess stehenden «Wilden Liga Wien» an mein Ohr. Entzückt las ich da, dass erwogen wird, eine Liga von Freak- und Chaotenteams (unter Einschluss des Augustin) hochzuziehen, in der vor dem Kick zum Beispiel vereinbart werden könnte, ohne Schiedsrichter zu spielen, also die Konflikte während des Spiels selber zu lösen. In der Praxis würden dann die Spieler und die Spielerinnen (gendergemischte Teams wären dann eine Selbstverständlichkeit), die gefoult werden, selbst «Foul» rufen.

Doch die beiden Wertewelten, von denen zu Beginn die Rede war, haben sich am Ende dieses Artikels nicht aufgelöst. Kann ein bohemehaftes Fußballprojekt Menschen ansprechen, für die der Fußball eine Gelegenheit bietet, die das Sozialsystem immer weniger zu bieten versteht, nämlich eine Selbstbestätigung? Ich frage unseren Sozialarbeiter An­dreas Hennefeld, den Verantwortlichen für das Augustin-Fußballprojekt, wie er das sehe. «Mit einer gewissen Skepsis», antwortet er. «Ausgerechnet mit einer Mannschaft eines Sozialprojekts mit solchen Ideen zu starten ist ambivalent. Die Spieler von SW Augustin, Gruft oder Neunerhaus spielen nicht ausschließlich zum Spaß, da geht es auch um Selbstbestätigung und um Erfolg, und das durchaus im konservativen Sinne. Ich meine aber, dass die Gründung einer Wilden Liga gute Impulse geben kann. Ich möchte unbedingt, dass der Augustin da mittut, aber ich kann diese Philosophie niemandem aufs Aug drücken. Ich denke, dass es bei SW Augustin parallel die Strukturen des konservativen Fußballs und des innovativen Fußballs geben wird. Ich sehe es als meine Aufgabe, Spieler und auch Spielerinnen für diesen innovativen Fußball zu interessieren, zu motivieren und dafür zu gewinnen. Vorstellbar für mich ist, dass sich auch Verkäuferinnen und Verkäufer dafür finden lassen, die wir mit SW Augustin bisher nicht erreichen konnten, plus eventuell die eine oder die andere Person aus dem Augustin-Umfeld.»

Boheme und Rand zusammenzubringen – das hat es ja in Ansätzen schon gegeben. Wir sollten es wieder versuchen.