Unbequeme Holzköpfevorstadt

Eine kleine Augustin-Museologie, Teil 6: das Puppenmuseum in Pilsen

Dass das Puppenspiel in Böhmen eine lange Tradition hat, ist den meisten bekannt. Aber haben Sie schon einmal den Mechanismus bedient, damit so eine Holzfigur ihre Augen verdreht? Und kennen Sie die Biographien jener, die den Marionetten Leben eingehaucht haben? Lisa Bolyos (Text und Fotos) ist nach Pilsen gefahren, um Puppengeschichte zu lernen.Vergessen Sie den Hauptbahnhof! Diese Reise muss ihren Ausgang am Franz-Josefs-Bahnhof haben. Hier kann man sich eine Fahrkarte nach Plzeň/Pilsen kaufen, ganz ohne eine Nummer zu ziehen, und übrigens auch, ohne sich in einem Einkaufszentrum zu verlaufen (der Supermarkt zu ihrer Linken wird Ihnen angesichts der neugebauten Shoppingcenter am West- und Hauptbahnhof plötzlich wie ein lokaler Greißler erscheinen). Der Regionalzug fährt zuerst nach České Velenice, wo Sie die fünfzehn Minuten bis zum nächsten Zug am besten damit verbringen, die mit türkisen Fliesen und dunkel gebeiztem Holz gestaltete Innenarchitektur des Bahnhofs zu bestaunen. Ein schneller Kaffee im Bahnhofsbeisl geht sich aus, hier wird noch geraucht!, das macht aber auch nichts angesichts der schier unendlichen Höhe der Räume. Der nächste Zug bringt uns bis České Budějovice, wo ein Klavier am Bahnhof zum Spielen einlädt; ein letztes Mal umsteigen und wir sind da.

Zähneklappern und Augenverdrehen

Pilsen hat sich von seinem Status der europäischen Kulturhauptstadt sichtlich erholt. Der schneebedeckte Náměstí Republiky, der Platz der Republik, ist leer bis auf ein paar wenige eingemummte Gestalten, die durch die Eiseskälte nach Hause oder ins Blaue Café im Hotel Central eilen. Keine nervigen Tourist_innenmassen, die uns daran erinnern würden, dass wir selbst welche sind. Den kleinen metallenen Köpfchen, die das schmiedeeiserne Tor des Doms schmücken, hat jemand Hauben und Schals gestrickt. Sie sehen aus wie aufgesteckte Fingerpuppen.

Bis zu zweitausend Besucher_innen sind 2015 pro Tag ins Puppenmuseum gekommen, sagt Tom, der dort neben seinem Lehramtsstudium mit drei weiteren Kolleg_innen im Schichtdienst als Museumsguide arbeitet. «Das war ein hektisches Jahr.» Heute sind außer uns noch zwei, drei Leute in dem schmalen Bau aus dem 15. Jahrhundert, der, mehrfach architektonisch ergänzt, alle Kriege überstanden hat und auch in der Ära des großen Schleifens bestehen blieb. Dreht man sich neben dem etwas massiv geratenen Dom in der Mitte des Platzes um die eigene Achse, staunt man nur so über die Häuser, die ihn säumen – eines pittoresker als das andere, nur zwei, drei, die aus der architektonischen Schule des Realsozialismus kommen, und die verleihen dieser Puppenstube erst so richtig Charme.

Das Puppenmuseum – «Muzeum Loutek» – erzählt auf drei Stockwerken die Geschichte des tschechoslowakischen und des Pilsener Puppentheaters und Marionettenbaus, eine Geschichte von lustig geschnitzten Gesichtern genauso wie eine der Volksbildung, des Kabaretts und der politischen Unbequemlichkeit. Nicht nur Geschichte lernen kann man hier, sondern auch das Puppenspiel in all seinen handwerklichen Varianten ausprobieren, einfache Modelle vom Zähneklappern und Augenverdrehen ebenso wie Handpuppen, Marionetten (zu deren Führung die Autorin kein natürliches Talent beweisen konnte!) und kindergroße Puppen, die man an einem Griff im hohlen Rücken hält. Markéta Formanová leitet das Museum, das erst 2009 gegründet wurde; den Termin, den wir uns zum Gespräch ausgemacht haben, hat sie vergessen oder hat schlicht Wichtigeres zu tun.

Der revolutionäre Kasper in der Ferienkolonie

Die Marionette, sprich, die von oben geführte Holzpuppe, war im Tschechien des 18. Jahrhunderts kulturelles Importprodukt aus der italienischen Puppenspielerei. Die Figuren, aus Lindenholz geschnitzt, wurden von hinten ausgehöhlt, um das Gewicht zu reduzieren, ihre Kostüme waren auswechselbar, um die Puppen, wie echte Schauspieler_innen, für verschiedene Charaktere einsetzen zu können.

Bis ins beginnende 20. Jahrhundert waren sich Puppenspiel, Wandertheater und Jahrmarkt im Genre noch sehr nahe. «Horáky» nannte man die wandernden Berufspuppenspieler_innen, «doláky» jene, die für diverse Jahrmarktsunterhaltungen verantwortlich zeichneten. Den fahrenden Puppenspieler_innen war es allerdings untersagt, in den großen Städten aufzutreten – dass künstlerische Darbietungen im öffentlichen Raum verboten werden, ist eben auch keine neue Erfindung. Um das Jahr 1900 wurde das erste immobile Puppentheater in Pilsen eröffnet: Ein Herr Škoda, seines Zeichens Lebkuchenbäcker, betrieb es in der Ulice Solní, die nur einmal Umfallen vom Museum entfernt ist.

An den glatzköpfigen Spejbl mit seinen weitabstehenden Holzohren und seinen Kompagnon, den Hurvínek, erinnern Sie sich vielleicht von Langspielplatten oder aus dem Fernsehen. Dieser Spejbl geht auf Josef Skupa zurück. Wie Jahrzehnte später dem Mundl wurde auch dem Spejbl eine ganze Serie (an Theaterauftritten) auf den Holzleib geschneidert; die entwarf und spielte Skupa mit Kolleginnen wie Anna Kreuzmanová und Jiřina Skupova. Zum Beispiel ein Stück aus dem Jahr 1939, in dem «Frau Drbálková» ihn aus seiner Wohnung vertreiben will, um ihren «Lebensraum» zu erweitern– ein Stück des Spotts auf das Münchner Abkommen. Die Saison 1943/44 endete denn auch mit Skupas Verhaftung und Verurteilung zu fünf Jahren Gefängnis wegen «deutschenfeindlicher Tätigkeiten»; er konnte jedoch fliehen. Auf einer Fotografie ist der mit «Prof. Skupa» beschriftete Tourbus zu sehen, mit dem seine Truppe durch die Lande fuhr; man kann sich die Aufregung vorstellen, wenn er am Hauptplatz eines böhmischen Dorfes stoppte.

Und noch eine zweite Berühmtheit unter den Pilsener Marionetten kommt aus der geistigen Werkstatt von Josef Skupa: 1913 wurde das sogenannte «Puppentheater der Ferienkolonien» gegründet. Es sollte Geld einspielen, um Kindern, die von Armut betroffen waren, erholsame Sommerferien zu ermöglichen. Skupa stieß dazu, als er ein bisschen über zwanzig war. Um eine Kasperfigur, geschnitzt von František Nosek, konzipierte er eine Kabarettserie über politische Aktualitäten und ließ den Kasper darin schon einen Monat vor dem Finale der Habsburgermonarchie in einer Beerdigungsszene den österreichisch-ungarischen Adler zu Grabe tragen – nicht nur Skupa wurde berühmt, sondern auch der «Revolučny Kašpárek», der revolutionäre Kasper, dem in späteren Jahren gar eine Gedenktafel im öffentlichen Raum gewidmet wurde.

Die nächste Generation, der Künstler wie Jiři Trnka (geb. 1912) angehören, war schließlich eine, die irgendwann zum (Zeichen- und Puppen-)Trickfilm überging. Manche von Trnkas Figuren, «Macbeth» oder sein «Selbstporträt», sind Marionetten der Moderne, mit überlangen, dünnen Gliedmaßen, großen, leeren Augen, wie Entwürfe für Burtons «The Nightmare Before Christmas». «Hätte es Josef Skupa nicht gegeben, wäre ich vielleicht Maler geworden, aber niemals Puppenspieler», hat Trnka seinen Lehrer geehrt. Trnka konnte, so sagt man, mit beiden Händen gleichzeitig zeichnen.

Komm zurück, Widerspruch!

Heute ist in der Stadt der fünf Flüsse nur noch das Alfa Theater, das 1992 aus der innerstädtischen Americké in die Rokycanská Straße umgezogen ist, dem Puppenspiel verschrieben. Die Alfa-Leihgaben im dritten und letzten Stock des Museums weisen allerdings eher auf ein Ende des politischen Theaters hin. «Gegenüber der repressiven Kulturpolitik des Realsozialismus hat sich das Alfa-Theater strategisch klug verhalten, hat klassische Stücke inszeniert und darin Botschaften untergebracht», sagt Tom. «Aber dann war das Regime weg und die klassischen Stücke sind geblieben.» Wir verabschieden uns und gehen die vielen Treppen hinunter, vorbei an Fotografien von Puppenspieler_innenkongressen und Marionettenwerkstätten, vorbei an den Biographien jener Leute, die sich mit ihren kleinen Lindenholzgenoss_innen gegen gesellschaftliche Einschränkungen und staatliche Repression gewandt haben. Kommt zurück!, will man ihnen zurufen.

Abends trinken wir ein Glas Pilsener Urquell im Restaurant des einst imposanten Hotel Slovan, in dessen riesigen Speisesaal ein wenig verloren ein kleinformatiges Porträt von Franz Josef I hängt. Früher, sagt der Kellner, war das ein richtig schönes Restaurant, nicht so lieblos ausgestattet, und er zeigt mit abfälliger Geste auf die (durchaus imposanten) Vorhänge aus synthetischer Spitze. Die Speisekarte ist dreisprachig, der Kellner auch, und wir sind ein wenig beschämt darüber, wie wohl wir uns in dieser räudigen k. u. k. Institution fühlen. Wie hat der revolutionäre Kašpárek beim Begräbnis des Adlers gesungen? «Gute Nacht, Österreich / schlaf süß / lass dir was träumen / von k. u. k. // Schlaf süß / gute Nacht / ohne deine Hilfe / wird jetzt weitergemacht».

Puppenmuseum Pilsen

Náměstí Republiky 23, 301 00 Plzeň

www.muzeumloutek.cz