«Wir sind der Ortskern!»vorstadt

Kunst gegen Goldgräber, die Dörfer aufkaufen

Eine neue Fertighaussiedlung versus leerstehende alte Gebäude entlang der Dorfstraße. Bauern mit Erdäpfelautomaten versus Wohnbaugesellschaften, die ehemalige Feuchtwiesen aufkaufen. Natalie Deewan schrieb in Pixendorf auf die Fassaden, was Dorfbewohner_innen sich nach einem Blick über die Schulter zuflüstern. Eine Reportage von Kerstin Kellermann.

Foto: Christoph Moderbacher

Es ist schon eine surreale Landschaft, 15 Zug-Minuten von Wien entfernt. Wo ein Bahnhof hingepflanzt wird, entsteht Leben, aber es dauert eben noch ein bisschen. Man sieht nichts vom Bahnhof Tullnerfeld aus, nur eine weite Ebene und verschiedene Straßen bzw. Auto-Parkplätze. Keine Häuser, keine Bauernhöfe. Flimmernde Hitze liegt über den Maisfeldern. «Nein, hier ist kein Dorf. Nein, da kann man nicht zu Fuß gehen», sagt der Informations-Mann von den ÖBB in gelber Warnweste und deutet mit dem Zeigefinger Richtung Horizont, wo Pixendorf und Michelhausen liegen. Angeblich. Hinter einem Kreisverkehr mit einem postmodernen Turm in der Mitte, auf den man nicht steigen kann, verläuft eine schnurgerade Straße. Der Bahnhofsring nach vorne führt zum Altstoffsammelzentrum mit dem Buchstaben A auf dem Zaun, der Bahnhofsring nach rechts führt zum Asphaltwerk mit den Leuchtbuchstaben «CHINA» am Turm und zur Kompostieranlage «Bauernkompost» mit dem Buchstaben B.

Die Buchstaben stammen alle von aufgelassenen Geschäften, die Natalie Deewan, Fabian Faltin und Heinrich Steinböck im Lauf des letzten Jahres im gesamten Mostviertel gesammelt haben, um sie vor Ort neu zusammenzusetzen, zum «Gemischten Satz» von Pixendorf.

Leerstehender «jammerschADEG»

«Das Gemeindeboot ist noch nicht voll», sagt Natalie Deewan, die Pixendorf im Rahmen des Viertelfestivals ausbuchstabiert hat. «In vielen Gemeinden steht der Ortskern leer.» So wurde dem leerstehenden ADEG in Michelhausen ein «jammerschADEG» an die Fassade geschraubt, und der neue, große ADEG am Kreisverkehr bekam ein «Kundenwunder» serviert. Die Buchstaben stammen von der Kaffeesiederei Blumensträußl, der ehemaligen Molkerei Mank, einer Drogerie und auch von einem alten ADEG aus Tulln. «Der Lebensmittelkonzern REWE hat ganz bestimmte Auflagen in Bezug auf die Quadratmeteranzahl von Geschäften. Kleine, verwinkelte Läden werden zugesperrt. REWE sorgt für Flurbereinigung», meint die Künstlerin.

«Bei mir hat die Natalie Nächte lang gearbeitet», lächelt Gerti Wimmer, die ehemalige Greißlerin von Pixendorf, «sie schnitt die Dämmplatten aus und bettete die alten Eisengussbuchstaben darin ein.» Nun steht «HAUS KAUF» im Schaufenster des Leerstandes. Als Gerti Wimmers Gemischtwarenladen 2001 schloss und Gerti in Pension ging, wurde eine Ära in Pixendorf beendet. «Es war, als ob ein Berg wegbricht», sagte eine Dorfbewohnerin. 15 Jahre später eröffnete Natalie dort ihre «Gemischtersatzwarenhandlung». Anschluss an die Ära der lebendigen Geschäfte. Mit Buchstaben.

Über die Straße liegt die «Steig’n», der Gemeinschaftsgarten. «Früher haben hier alle Kraut angebaut und dann auf das Feld umgesetzt. Die einzelnen Parzellen sind Eigentum, nicht gepachtet», betont Gerti. Mais, Kürbis, Brennesseln. Über lila Blumen steht in großen Buchstaben «Allmende», das alte deutsche Wort für «commons», für die gemeinschaftliche Nutzung von Gemeingütern. Das END und das e haben den gleichen altrosa Farbton wie die Blumen. «Die ALLmENDe in Pixendorf soll ein vergessenes Wort und eine vergessene Praxis, gerade an einem Goldgräberort wie Pixendorf, wieder ins Gespräch bringen», meint Natalie. Dunkelgrün leuchtet das Gras. Sitzbank gibt es keine, schließlich wird gearbeitet und nicht gerastet im Gemeinschaftsgarten.

«Wo wäre der Ortskern zu finden?», fragte Fabian Faltin vom Pixendorfer Kulturschuppen in seiner Performance auf der Steig’n, der Buchstaben-Allmende. Denn der nicht vorhandene Ortskern des langgestreckten Pixendorf wäre geografisch gesehen genau hier. Angekündigt als «Herr Kern», glaubten einige Bewohner_innen wirklich, dass der Bundeskanzler persönlich vorbeischauen würde. Sogar der Bürgermeister eilte herbei. Der «Herr Ortskern» trat im Anzug auf, den er bei seiner Ansprache an das Dorf auszog. «Wir sind der Ortskern», behauptete er und forderte die Zuhörer_innen auf, «sich mutig einmal richtig in die Nesseln zu setzen.» «Die Nesseln wurden betreten», lacht Natalie. Einwohner_innen ergriffen selbst das Wort. «Es war ja nur die Wahrheit, weder erfunden, noch ein Lob», meint Gerti. Erdbeeren, Rosen, Brennessel. «Dieser Ort braucht wieder einen Ortskern», dozierte der Herr Kern, «einen Fixstern, um den sich alles dreht. Wir brauchen eine Dorfkern-Schmelze.» Fabians Großeltern kauften die leere, alte Schule am Hügel, und der Enkel betreibt nun dort den Kulturschuppen Pixendorf. Inklusive Dirndlkirschen-Likör.

Fertighäuser auf Feuchtwiesen

Surreale Landschaft, die zweite: Wie vom Himmel gefallen schauen die völlig unterschiedlichen Fertigteil-Häuschen aus, die in einer großen Haufensiedlung in der Landschaft stehen. Geplant ist eine Verdreifachung der Einwohner_innenzahl von derzeit 285 auf rund 800 Personen, auch viele Wiener_innen ziehen zu. «Ja, will er uns zur Stadt machen?», fragten Bewohner_innen. Natalie Deewan schrieb «urBane Bauern» an die Mauer, die die alten Häuser oben an der Straße von den tiefer gelegenen Fertighäusern trennt – ein Anagramm. «Seit dem neuen Bahnhof sind die Felder die Rückzugsgebiete für Hasen», erzählt ein Bauer. «Hier waren Feuchtwiesen, Überschwemmungsgebiete, wo nun die Fertighäuser stehen. Hier fuhren die Bauern mit Booten! Alles verkauft. Kostet jetzt 140, 150 Euro pro Quadratmeter. Der ländliche Charakter verliert. Das waren hier die besten Gründe, extrem fruchtbarer Boden.» Auf die Frage, warum er nichts gekauft hat von dem fruchtbaren Grund, wird der Pixendorfer Bauer leicht ausfällig hinter seiner verspiegelten Sonnenbrille. «Ja, wie denn? Die Bauern erhielten 55 Euro pro Quadratmeter für ihren Grund. Das kann man nicht erwirtschaften, in Generationen nicht.» Laut Fabian Faltin hat dieser Bauer selber ebenfalls Grund verkauft.

«Liebe, Bank, Karriere», eine Fortführung der Trias «Glaube – Liebe – Hoffnung», schrieb Natalie Deewan auf den Stall eines leerstehenden Bauernhofes. Ein Bauer nimmt einen Kredit auf, und wenn er ins Pflegeheim muss, wird sein Bauernhof von der Bank gepfändet. Wie hier der Fall und öffentlich auf die Fassade geschrieben. Dabei sind die Bauern und Bäuerinnen sehr gut organisiert, es gibt zum Beispiel einen Erdäpfelautomaten am Bahnhof und im Maisfeld legt man das Geld selber in eine Lade, wenn man sich Maiskolben holt. Funktioniert wirklich. Ein Bauer begann Traktoren zu restaurieren und leitet nun eine Traktoren-Oldtimer-Messe in Tulln. Ein riesiger Wildwest-Traktor staubt über die Felder. «Gestern ist ein Zug entlanggefahren», bemerkt Fabian zu den alten Gleisen, die an einem verlassenen Häuschen vorbeiführen. Als plötzlich «KundenCenter» auf dem alten Wartehäuschen ohne Fenster stand, fragten einige: «Was macht die ÖBB wieder da?» Die ÖBB schreibt schließlich überall ihren Namen drauf. (Sogar groß in Rot auf den Wiener Hauptbahnhof, wo nur ganz klein Bahnhof steht, nicht schön riesig «Südbahnhof» wie früher.)

Auf die Holzwand einer Halle schrieb Natalie «Mir lebn eybik» nach einem jiddischen Widerstandslied von 1943. Die Buchstaben stammen zum Teil aus der anonymen Spende einer Frau, die sich freute, dass auf diese Weise das Geschäft ihres Vaters weiterleben kann. Der Schriftzug wurde weit oben angebracht, wegen des Bezuges zum Himmel. Und die Buchstaben können bleiben.