Würschtlmordevorstadt

Bibliotick

«Unter Gemüsehändlern», wurde gesagt. «Familienfehde.» «Türkenmafia.» «Dönermorde.» Und dann, als sich mit einem Schlag herausgestellt hat, dass es Nazis gewesen waren, war da niemand mehr, der sich entschuldigen wollte. Mit «URTEILE» schreibt ein Bühnenstück die Geschichte jetzt aus anderer Perspektive.Von 2000 bis 2007 ermordeten Mitglieder des «Nationalsozialistischen Untergrunds (NSU)» in Deutschland zehn Menschen. Hauptsächlich Geschäftsleute aus dem privaten Einzelhandel, Familienmenschen, Münchner, Dortmunder, Nürnberger. Tathintergrund? Unbekannt. Rassistische Motive? Nein, kein Hinweis darauf. Die Polizeioperation zur Aufklärung der Morde hieß, weil ja die meisten Opfer aus türkischen Familien kamen, «Operation Halbmond». Dann, als ein griechischer Deutscher zu den Opfern dazukam und «Halbmond» nicht mehr adäquat schien, Umbenennung auf: «Operation Bosporus». Wirklich, kein Witz.

Seit 2013 findet der NSU-Prozess statt. Nachdem Bekennervideos, Tatwaffe und (tote) Täter gefunden wurden, lässt sich das Märchen von der «Familienfehde» nicht mehr aufrechterhalten. Höchstens, wir sprechen von einer Fehde in der «Famiglia» bestehend aus rechtsradikaler Szene und deutschem Verfassungsschutz. Dieser Tage verstarb die 5. (!) Zeugin, bevor sie aussagen konnte. «Es ist lächerlich, zu sagen, man muss den Verfassungsschutz reformieren. Was gibt’s da zu reformieren? Da gibt’s nur abschaffen», sagt die Rechtsanwältin in «URTEILE», einem dokumentarischen Theaterstück über die Opfer des NSU. Der Bühnentext wurde nun publiziert. Er erzählt die Geschichte aus Perspektive der Betroffenen. Betroffen von den Morden, der Polizeiarbeit und der Medienhetze. Eingebettet ist das Stück in ein Theater-Buch, das sich auch das Rundherum anschaut: die Rolle des postmigrantischen Theaters zum Beispiel; oder jene des deutschen Verfassungsschutzes; oder jene unrühmliche der Journalist_innen. Das Theaterstück wurde ins fixe Repertoire des Münchner Residenztheaters aufgenommen. «Vorhang auf. Ich bin hier nur Gast. Engagiert für die Ausländerrolle.»

Tunay Önder, Christine Umpfenbach, Azar Mortazavi (Hg.): URTEILE

Unrast Verlag 2016, 248 Seiten,

16,50 Euro