Karl Kraus, der Austrofaschist?Dichter Innenteil

Anstiftungen zum Wiederentdecken von Karl Kraus, Teil 23

Jetzt wissen wir aber auch, dass von der Natur Vernachlässigte wegen ihrer Missgestalt glühenden Hass auf alle Menschen werfen und, in ihrer Feigheit zu keinem anderen Verbrechen als der Heuchelei fähig, die Rolle eines ethischen Erziehers spielen.

Felix Salten über Karl Kraus, 1934

In Wien wurde mit Maschinengewehren auf die Straße geschossen, in Berlin hat sich die Partei, der Du ausgleichende Gerechtigkeit zubilligst und die den Weltkrieg verherrlicht hat (durch vier Jahre, in Österreich nur Anfang August 1914) wehrlos dem Verhängnis ausgeliefert und wurde von einer Mörderbande, die einfach Erlaubnis bekam und deren Faszination die Gesinnung anderer Länder, die demokratische Gesinnung heute lähmt wie die Boa constrictor das Kaninchen, abgeschlachtet.

Karl Kraus an Sidonie Nádherný, 6. März 1934

Was den Rat anlangt, () Marx zu lesen, so ist leider zu bekennen, dass wiederholte Versuche zwar nicht die religiöse Erschütterung hervorgebracht haben, die offenbar nötig wäre, um die Kritik an der bürgerlichen Welt, die im Werk der Fackel geleistet ist, als Stümperei zu bereuen; aber doch auch nicht die Überzeugung, dass jener für die ausbündige Intelligenz die Verantwortung trägt, die heute in seinem Namen die Welt verödet und es jedem Antikapitalkalb ermöglicht, mit seiner Fahne einem vor der Nase zu fechten.

Karl Kraus, 1934

Als Adolf Hitler Jänner 1933 Reichskanzler wurde, erwartete sich die deutschsprachige Geisteswelt von Karl Kraus das große satirische Strafgericht, eine wortgewaltige Befreiung aus der eigenen Paralyse. Dieser schwieg jedoch und sein Schweigen schuf ein Vakuum, in das sich die bis dahin heimlichen Ressentiments seiner öffentlichen Anhänger ergossen. Die einen werteten seine Zurückhaltung mit einer Mischung aus Bedauern und Verständnis, als Altersresignation eines verdienten Kämpfers vor einer zu schwierigen Aufgabe, andere wie Bruno Kreisky schlicht als Feigheit vor dem Feind. Nur Bertolt Brecht, der mit Kraus im selben Boot saß, in jener Arche, die die Sprache durch die Flut der Stellungnahmen, Phrasen und Bescheidwissereien rettete, wusste dies Schweigen mit einem Gedicht zu würdigen: Als der Beredte sich entschuldigte/dass seine Stimme versage/trat das Schweigen vor den Richtertisch/nahm das Tuch vom Antlitz und/gab sich zu erkennen als Zeuge. Als Kraus im Juli 1934 dann doch das Wort ergriff und zwar auf über 300 Seiten, und seiner allgemein bekannten Verachtung für die Sozialdemokratie auch noch die Verurteilung des Arbeiteraufstands vom Februar ’34 und seine Parteinahme für den autoritären Bundeskanzler Dollfuß draufsetzte, wandte sich Brecht erbittert vom väterlichen Freund ab und mit ihm beinahe alle verbliebenen linken Gefolgsleute. Viele bedauerten die politische Fehleinschätzung des Gutwilligen, aber Unwissenden, die Sozialdemokraten aber wussten nun seine Kritik an ihnen rückwirkend zu entkräften da er nicht nur zu den Austrofaschisten übergelaufen sei, sondern ihnen ideologisch ja von Anfang an nahe gestanden habe. Alfred Pfabigan resümiert den Parteistandpunkt: Hier, im Oktober 1933, ist die letzte Zäsur im Leben des großen Satirikers. Wäre er nach diesem schweigenden und dadurch besonders beredten Protest gegen Hitler gestorben und endgültig verstummt, dann wäre seinem Andenken und uns die Peinlichkeit seines Alterswerks erspart geblieben. Und wäre die Fackel nicht seit Jahreswechsel im Internet frei zugänglich, bliebe die Peinlichkeit von Pfabigans Einschätzung nur wenigen Eingeweihten bekannt. Es gibt keine Zäsur im Werk von Karl Kraus! Man lese die 315 Seiten starke Ausgabe mit dem paradoxen Titel Warum die Fackel nicht erscheint und überzeuge sich von einer weiteren polemischen Glanzleistung: unaufgeregt, souverän, wenngleich in ihrem verschlungenen Andeutungs- und Anspielungsgeflecht ohne das notwendige Vorwissen gewöhnungsbedürftig. Pfabigan nennt vier Beweggründen für diese angebliche Zäsur: die berechtigte Lebensangst des Juden Kraus, seinen Hass gegen die Sozialdemokratie, seine Verehrung für den Kanzler Engelbert Dollfuß sowie eine gewisse ideologische Nähe zum Regime. Der erste Punkt ist Spekulation, zudem Privatsache, zweiter falsch formuliert, denn man hasst nur, was als ebenbürtig man empfindet, Punkt drei stimmt und die Unhaltbarkeit des vierten Punkts wird noch zu erörtern sein.

Alles nur nicht Hitler!

Bewusst unterschlägt Pfabigan das wichtigste und einzig bedeutende Motiv: ein politischer Pragmatismus und ungetrübter Gegenwartssinn, der den angeblich apolitischen Kulturkritiker von den realitätserprobten Materialisten trennte: Ich bin für so manches, was die Sozialdemokraten wollen, und freue mich, es von ihren Gegnern vor dem Äußersten behütet zu wissen. Man fühlt das Leid ihrer Verluste, mag mehr ihre Unfähigkeit oder Feindeswille sie verursacht haben: Gegenüber dem größern Übel bewahrt dieser ihnen mehr, als sie verlieren. Ich denke an nichts als an Alles nur nicht Hitler; denn ich bringe den innern Reichtum jener nicht auf, die noch mehr wollen oder nicht wollen, und beneide sie um die Amplitüde, vermöge deren sie mit einem Parteiorgan auf zwei Bluthochzeiten tanzen möchten.

Kraus hatte sich vom wohlwollenden Förderer zum erbitterten Gegner des sozialdemokratischen Parteiapparats entwickelt und nie wollte dieser ihm verzeihen, dass er sie in seiner Kritik von links überholt hatte.

Er maß die Sozialdemokratische Arbeiterpartei nach ihren eigenen Ansprüchen und kam zu dem ernüchternden Ergebnis, dass ihr Zwiespalt zwischen revolutionärer Rhetorik, die er verabscheute, und kleinlautem Sich-Einfügen in die objektiven Verhältnisse (Otto Bauer), das er verspottete, sie als seriöse Vertreter der arbeitenden Klassen delegitimierte. Sie paktierte so Kraus also mit der ihm verhassten Bürgerwelt und versuchte gleichzeitig, durch Lebensverhinderung aus Drill und Mechanik, durch Übernahme faschistoider Symbolkultur, zunehmend auch deutschnationalistischer Phraseologie mit den Nazis Stechschritt zu halten. Am deutschen Beispiel konnten alle, die nicht wegschauten, erkennen, wohin sie diese Politik führte: Weite Teile der Sozialdemokratie gingen im Nationalsozialismus auf, ihre Führer wurden interniert oder liquidiert.

In Kraus ethischem Kodex stand, unabhängig von jeglicher Weltanschauung, Integrität an oberster Stelle. Bei den Christlich-Sozialen deckte sich wenigstens die Verpackung mit dem Inhalt, während die SDAP für ihn eine falsche Linkspartei war. Ans autoritäre Regime des Engelbert Dollfuß indessen knüpfte er die Hoffnung, dass es die Hitler-Barbarei nicht die österreichische Grenze passieren ließe.

Seiner Freundin Sidonie Nàdherný, die gewisse Sympathien für die Sozialdemokratie hegte, schrieb er in einem Brief vom 6. März 1934: Die Idee darf nicht sterben, gewiss, aber sie wird von professionsmäßigen Lügnern, in deren Pranken sie ist, weiter geschädigt, und äußerlich, sozialpolitisch, ist das Lebensinteresse der Betroffenen bei den Faulhaber, Mercier, Innitzer in besserer Hut als bei den Hilferding, Blum und Bauer. Das wird sich zeigen.

Kraus glaubte natürlich nicht, dass die Klerikalfaschisten eine bessere Sozialpolitik betrieben, mit Lebensinteresse ist nichts als die nackte physische Existenz gemeint, deren Bedrohung durch die Nazis er bereits 1933 ernster zu nehmen schien als irgendjemand in Österreich. Dass seine realpolitische Neigung keine ideologische war, beweist eine weitere Stelle des Briefs: Kulturell ist die Luft verpestet, aber vor dem Elementarereignis H. hilft es nichts durch eigene Schuld verlorenes Gut phrasenmäßig zu behaupten.

Doch dass der Rat, vor dem gemeinsamen Würger Meinungsverschiedenheiten oder weltanschauliche Divergenzen zurückzustellen; ein Ideal, das, wenn es eines ist, vom augenblicklichen Notstand unberührt bleibt, im Geiste, wenn er einer ist, aufzubewahren , dass dieser Rat nicht die geringste Übereinstimmung mit dem andern Ideal bedeuten muss, könnten und wollten Kraus Kritiker nicht wahrhaben. Keinen Zentimeter näher an die Christlich-Sozialen, aber so weit weg wie möglich so ließe sich seine Losung umschreiben von den Sozialdemokraten, die, nachdem ihre Intellektuellen ihm Feigheit vor Hitler vorgeworfen hatten, in ihrem Prager Exil die Losung von Hitler als dem kleineren Übel gegenüber Dollfuß ausgaben. Keinen Zentimeter näher an die Christlich-Sozialen also, aber Respekt vor einem Diktator, der den Nazis die Stirn bietet und eine Zukunft gewährt, in der ideologische Auseinandersetzungen überhaupt noch möglich sein würden. Doch die antifaschistischen Freidenker würden so frei denken, dass sie sich in demselben Konzentrationslager mit dem treffen möchten, der es ihnen ermöglichen wird, überhaupt noch zu denken. Dass die Souveränität Österreichs stehen und fallen würde mit der Patronanz Mussolinis, war bereits damals kein Geheimnis, ein Arrangement zwischen Italien und Nazi-Deutschland allerdings auch nicht absehbar.

Eine grobe Fehleinschätzung leistete sich Kraus jedoch mit seiner Beurteilung des Februaraufstandes 1934, den er als Initiative der SDAP missdeutete, wohingegen er doch einen Verzweiflungsakt des linken Flügels gegen die zögerliche Politik der Parteileitung darstellte. Ein völlig sinnloses und gefährliches Opfer, dessen Niederwerfung er als eine österreichische Notwendigkeit bedauerte. Hätte sich Todesmut, der ihrer falsch gerichteten Phrase gehorcht hat, der wahren Gelegenheit aufgespart, sich nicht kampflos zu ergeben: für alle geschichtlichen Zeiten wäre das Gedächtnis einer Partei, die es drüben so vollkommen getan hat, rehabilitiert worden …

Persönlichkeit statt Personenkult

Mag sein, dass Karl Kraus in seinem Glauben an das Walten von Persönlichkeiten hinter linke Theorie und Soziologie zurückfiel, die den ökonomischen und politischen Verhältnissen mehr Wirkmächtigkeit zubilligen als Naploeons unwirschem Geist und Bismarcks Willen zur Macht. Mit seinem Spott derer aber, die sich als Subjekte aus der Geschichte ausklinkten und nur noch den Verhältnissen bei deren Vollendung zusahen, war er diesen Theorien wieder voraus. 1933 hatte Kraus den wahren Charakter des Nationalsozialismus dermaßen erkannt, dass die Sophistereien, ob dieser nun die historische Endphase des Kapitalismus oder das absolute Böse bedeute, hinter der Frage zurückstehen mussten, wie man ihn und wer ihn stoppen könne. Otto Bauer, dem Ticktacktiker der Parteiuhr traute er das weniger zu als Dollfuß, der ihm spätestens zu imponieren begann, als er einem Emissär des III. Reichs, welcher mit einem Flugzeug anreiste, die Landeerlaubnis verweigerte, mit der Begründung, seine Anwesenheit in Österreich sei unerwünscht. Kein weltanschaulicher Gegensatz, beteuerte Kraus, könne ihn zwingen, Wesenszügen wie Mut, Leidenschaft und Sachlichkeit gerade dort Respekt und Sympathie zu versagen, wo die Entfaltung den offenbaren Nutzen gewährt, mit dem Sein das Anderssein zu erhalten Tatsächlich hegte Kraus eine tiefe Verehrung für diesen kleinen David, der über Goliath siegen würde. Wir wissen nicht, ob es Selbstironie war, dass Kraus stets ein Foto des Kanzlers bei sich trug, das er entzückt seinen Freunden zeigte, um sie von dessen Ähnlichkeit mit dem Kinderstar Jackie Coogan, bekannt aus Charlie Chaplins Film The Kid, zu überzeugen.

Unmöglich ist es indes, Kraus irgendeine Affinität zu welchem Faschismus auch immer nachzuweisen, die bei Ezra Pound, Gottfried Benn, Louis-Ferdinand Céline u. v. a. gemeinhin mit den Verlockungen des Zeitgeists entschuldet werden. Ungebrochen bleibt seine Verachtung für alles Völkische, Provinzielle, für Korpsgeist und Militarismus. So macht er sich über die Kampfesmetaphorik lustig, mit der seine Anhänger, mitunter auch der Autor dieser Serie, ihn mystifizieren und diagnostiziert an eben dieser den Ungeist seiner Zeit. Wenn Kraus den wütenden Strafer markiert, dann peitscht er nur allegorisch die Händler aus dem Tempel, keinesfalls droht er mit wirklicher physischer Gewalt. An Nietzsche lehnt er genau jene Tendenzen ab, die diesen mit dem Faschismus verbinden, und so apokalyptisch seine Visionen einer irregeleiteten Zivilisation auch sein mögen, feiert er nicht deren Reinigung durchs Stahlgewitter (E. Jünger) oder den Blutrausch des völkischen Erwachens, seine Sehnsucht nach dem Ursprung ist nicht die nach dem schönen amoralischen Barbaren, und dass die Parteinahme für jene Kraft, die das österreichische Parlament auflöste, einen Rückfall in seinen Antidemokratismus der 1910er Jahre bedeutete, widerlegen folgende Worte: Denn gegen die Auferstehung Wotans sei der Parlamentarismus unwirksam, gegen das Mysterium von Blut und Boden versage die Demokratie, und die Gnadenwahl von Gangstern sei durch das allgemeine Stimmrecht nicht zu verhindern.

Dass sich in dieser historischen Notlage die simplen Werte einer christlichen Ethik als solidere Handlungsmaximen bewährten als die Abstrakta eines wissenschaftlichen Weltbilds, davon war Karl Kraus restlos überzeugt; eine gewisse Naivität liegt freilich in der zuweilen doch geäußerten Hoffnung, diese Werte könnten das Handeln der Austrofaschisten leiten. Jedenfalls wären jene Bauern, die im Konzentrationslager ermordet wurden, weil sie sich weigerten, das Bildnis dessen, der ihnen zu töten verbat, gegen das Hitlerbild zu tauschen, in seinen Augen keine schlechtere Antifaschisten gewesen als die Kommunisten, die für theoretisch fundierte Ideale starben.

Im März 1938 war es schließlich die KPÖ, die Kraus Forderung einer patriotischen Allianz mit den Klerikalfaschisten gegen Hitler einlöste. Zu spät. Karl Kraus blieb der Anschluss erspart. Er war zwei Jahre zuvor, von vielen seiner Freunde missverstanden und verlassen, aber sich selbst treu, gestorben. Was die wenigsten wussten und später die meisten nicht wissen wollten, dass er in der Zeit, in der er schwieg, 1933, eine der ersten und hellsichtigsten Analysen der nationalsozialistischen Ideologie verfasst und zurückgehalten hatte. Dazu mehr im nächsten Artikel.

Lesetipp:

Dagmar Schuberth: Karl Kraus und der Faschismus. Diplomarbeit. 2001. Nationalbibliothek