«Die Frage ist immer, ob es nachwirkt»tun & lassen

1918–1938–2018

Mit einem Gedenkakt in der Wiener Staatsoper beging das offizielle Österreich am 12. November den 100. Jahrestag der Ausrufung der Republik. Damit ist der Gedenkreigen in diesem Jahr abgeschlossen. Grund genug für Samuel Stuhlpfarrer (Fragen) und Mario Lang (Fotos), den Historiker Oliver Rathkolb um eine abschließende Einschätzung zu ersuchen. Ein Gespräch über Staatsakte ohne historischen Tiefgang, die wissenschaftliche Unabhängigkeit am Haus der Geschichte und darüber, wie die Gegenwart der Zwischenkriegszeit ähnelt.

Ich nehme an, Sie waren am 12. November in der Staatsoper?

Ja.

Wie ist es Ihnen dabei als Historiker ergangen?

Es war ein staatstragender Akt mit wenig historischem Tiefgang, aber mit einer korrekten politischen Botschaft. Ich hoffe, dass die Alltagspolitik nicht schon in einer Woche all die wichtigen Bekenntnisse, etwa jenes, dass man nicht über Minderheiten drüberfährt, vergessen haben wird. Insbesondere die Rede des Bundespräsidenten würde ich allen Abgeordneten, ob im Nationalrat, im Bundesrat oder in den Landtagen als Lektüreempfehlung ans Herz legen.

Alexander Van der Bellens Rede habe ich auch bemerkenswert gefunden. Mit keinem Wort ist darin die konfliktreiche Vorgeschichte zur Ausrufung der Republik vorgekommen. Stattdessen wurde ein diffuses Gemeinsames betont.

Historische Vorlesungen haben wir, wie gesagt, keine gehört. Bei keinem der Redner. Ich hätte mir beispielsweise auch bei Vizekanzler Strache erwartet, dass er die Zusammensetzung der provisorischen Nationalversammlung thematisiert. Das waren ja überwiegend deutschnationale Abgeordnete, darunter sehr viele aus den Sudetengebieten und aus Südtirol.

Aber was die politische Botschaft betrifft, ist man am 12. November dem Anlass gerecht geworden. Maja Haderlap hat dann auch noch am Beispiel der Sloweninnen und Slowenen in Kärnten ihren Finger in die Wunden dieses jungen Nationalstaats gelegt.

Mit dem Staatsakt vom Montag ist der Reigen an Gedenkfeierlichkeiten in diesem Jahr abgeschlossen. Wie würden Sie dieses Jahr im Rückblick bilanzieren?

Was ich schon gut finde, ist, dass flächendeckend in ganz Österreich unterschiedlichste Veranstaltungen stattgefunden haben. Und, dass es zu meiner Überraschung auch gelungen ist, nicht nur auf 1918 zu fokussieren, sondern dass man sich auch sehr intensiv mit 1938 auseinandergesetzt hat, mit dem sogenannten «Anschluss», aber auch mit dem Novemberpogrom. Ich war gestern erst in einer Schule in der Karajangasse im 20. Bezirk. Da fand, initiiert von einer tollen Lehrerinnen- und Lehrerriege, eine Veranstaltung mit dem Sohn eines 1938 vertriebenen Mannes statt. Und mit dem Sohn eines hochrangigen SS- und SA-Mannes. Die beiden Väter sind dazumal in der Karajangasse in die Schule gegangen. Der erste der beiden jungen Männer war 1938 in einem sogenannten «Notarrest» der Gestapo inhaftiert. Der zweite hat seinen ehemaligen Klassenkollegen in einem entscheidenden Verhör herausgeholt, sodass dieser das Land wenig später noch rechtzeitig verlassen konnte. Bei dieser Veranstaltung in der Karajangasse haben nun also die beiden Söhne die Geschichte ihrer Väter den Schülerinnen und Schülern erneut erzählt. In einer richtigen Wiener Schule, mit vielen Migrantinnen und Migranten aus allen möglichen Ländern, mit manchen – was immer das auch sein soll – autochthonen Österreichern. Und da hat man gemerkt, wie es beim Zuhören Klick gemacht hat.

Es sind viele und vielfältige solcher Sachen passiert und eine ganze Reihe an kritischen Interventionen ebenso. Insofern war dieses Gedenkjahr aus meiner Sicht schon ein überraschender Erfolg. Die Frage ist natürlich immer, ob das auch nachwirkt. So wichtig die Auseinandersetzung mit der Shoah ist, man muss auch eine Lehre für die Gegenwart ziehen. Und ob das passiert, werden erst die nächsten Monate zeigen.

Wenn man sich die tägliche Propaganda der FPÖ ansieht, befallen einen starke Zweifel.

Ich bin ja kein Mäuschen, das im Parteivorstand der FPÖ sitzt und heimlich lauscht, aber ich glaube schon, dass es in der FPÖ einen Richtungskampf gibt. Das merkt man etwa daran, wie eisig und schneidend die Stille war, nachdem Vizekanzler Strache am Akademikerball sein antifaschistisches Bekenntnis losgelassen hat. Oder daran, was Vizekanzler Strache in der Staatsoper gesagt hat. Das war ein deutliches Statement gegen den Nationalsozialismus – verglichen mit seinem Vorgänger Jörg Haider, aber auch für ihn selber, der ja aus der Neonazi-Szene kommt. Und das passt nicht allen in der Partei. Und dann kommt es eben dazu, dass erneut Wiener FPÖ-Landtagsabgeordnete das Grab des «Nazi-Fliegers» Walter Nowotny besuchen. Oder das nur Tage darauf dieses dumme, vorurteilsbeladene Video zur Neuausgabe von E-Cards mit Bild auftaucht. Solange diese Dinge nicht aufhören, bleibt die FPÖ unglaubwürdig – selbst wenn sich dann einige Akteure schnell wieder

distanzieren wie im Falle des Videoclips.

Das Projekt in der Karajangasse, das sie zuvor angesprochen haben, geht wie viele andere in diesem Jahr auf die Initiative von Privatpersonen, von kleinen Vereinen oder anderen Zusammenhängen zurück. Wie haben Sie den Umgang des offiziellen Österreichs mit den Jubiläen in diesem Jahr empfunden?

Die FPÖ probiert eine ansatzweise kritische Geschichtspolitik, bringt aber letztlich nichts weiter. Und auf jeden Schritt nach vor folgen zwei zurück. Die ÖVP dagegen versteht die Bedeutung von Geschichtspolitik mehr zu forcieren als die Vorgängerregierungen. Daher gehen auch die einzigen Akzente, welche die Regierung in diesem Jahr gesetzt hat, auf die ÖVP zurück. Ich denke da etwa an das Projekt der Namensmauern der jüdischen österreichischen Opfer der Shoa, an die Einladung von rund 80 Überlebenden der Shoa aus Israel und an die Antisemitismus-Konferenz, die demnächst in Wien stattfinden wird. Auch beim Haus der Geschichte Österreichs, das allerdings auf zwei Vorgängerregierungen zurückgeht, kann man das feststellen. Ich möchte an die Pressekonferenz von Nationalratspräsident Sobotka und Minister Blümel zwei Wochen vor Eröffnung des Hauses der Geschichte erinnern. Im Gegensatz zur letzten Regierung unter Bundeskanzler Kern, die dieses Projekt wirklich schnöde und vernachlässigend behandelt hat und die Mittel dafür um zwei Drittel gekürzt hat, haben Sobotka und Blümel dieses Haus nun zumindest mit einer Absichtserklärung hochgehoben. Die beiden ÖVP-Politiker haben begriffen, dass das ein wichtiges Instrument der politischen Bildung ist. Die demokratiepolitische Schüsselfrage in diesem Zusammenhang ist: Bleibt die wissenschaftliche Unabhängigkeit dieses Projekts, die im entsprechenden Gesetz gegen massivste Widerstände aus der ÖVP vom damaligen Kanzleramtsminister Josef Ostermayer durchgesetzt worden ist, gewahrt oder nicht. Wenn diese in Frage gestellt wird, dann wird es eine dauerhafte Auseinandersetzung mit der gesamten geschichtswissenschaftlichen Community geben, das prophezeie ich schon heute.

Bleiben wir beim Haus der Geschichte. Minister Blümel hat unmittelbar vor dessen offizieller Eröffnung angeregt, das Haus der Geschichte in ein Haus der Republik umzufungieren. Was halten sie von dem Vorschlag?

Wir, im Wissenschaftlichen Beirat für das Haus der Geschichte Österreichs, haben eine eindeutige und einstimmige Meinung zu dieser Frage: Wir halten überhaupt nichts von dieser Umbenennung. Ich kann mir vorstellen, warum dieser Vorschlag gemacht worden ist, aber das ist eine andere Frage. Wir selbst haben dieses Thema vielfach, auf wissenschaftlichen Tagungen, in der Community, bei zwei großen Konferenzen diskutiert und sind einfach der Meinung, dass nur der Name «Haus der Geschichte» Sinn macht. Es ist etwa unmöglich, Republiksgeschichte darzustellen, ohne zumindest die Spätphase der Monarchie zu behandeln. Das geht nicht. Ich glaube, dieser Vorschlag war ein Schnellschuss.

Nicht wenige vermuten hinter Blümels Vorstoß die Absicht, das Haus der Geschichte möge die Zeit von 1934 bis ’38 und die von 1938 bis ’45 nicht allzu ausführlich abbilden.

Das glaube ich ehrlich gesagt nicht. Zunächst glaube ich, dass die Zeit von 1938 bis 1945 für Bundeskanzler Kurz eine zentrale Zeit ist. Da würde ich bei ihm eher vermuten, dass er mehr will und nicht weniger. Die Phase von 1934 bis 1938 ist dieser jungen ÖVP-Riege dagegen völlig egal. Das ist eine wissenschaftliche Debatte, die sich mittlerweile auch in Gesetzen niedergeschlagen hat. Der Begriff «Unrechtsregime» ist zwischen ÖVP und SPÖ außer Streit gestellt. Auch der Verfassungsbruch von 1933 durch die Christlich-Sozialen unter Engelbert Dollfuß ist unstrittig.

Selbst das «Waldheim-Pferd» von Alfred Hrdlicka regt überhaupt niemanden mehr auf, das ist Geschichte. Nationalratspräsident Sobotka hat es sogar zu seinem Lieblingsexponat erklärt. Seine bürgerlichen Parteifreunde vor zehn, zwanzig Jahren hätten es noch am liebsten zerstückelt und verheizt. Eher heikel wird es aus meiner Sicht im Bereich der Gegenwartsgeschichte. Damit meine ich die Frage, wie wird beispielsweise Schwarz-Blau I, also das Kabinett Schüssel/Riess-Passer, dargestellt. Und da muss ich sagen, dass das Kuratoren-Team keine Rücksichten genommen hat. Die haben auch die damaligen FPÖ-Plakate mit Slogans wie «Wien darf nicht Chicago werden» sehr zentral ausgestellt.

In den letzten Jahren mit den aufkommenden Rechtsregierungen in Polen und Ungarn, und ich würde auch Österreich und Italien in diese Reihe setzen wollen …

Aber mit Abstrichen. Salvini ist in meinen Augen ein Neofaschist.

Bei allen Unterschieden und Nuancierungen im Detail, ich würde Österreich dennoch hier einreihen. Mit dem Aufkommen dieser rechten Hegemonie fühlen sich jedenfalls viele Menschen an die 20er und frühen 30er Jahre erinnert. Vielerorts ist von Faschisierungstendenzen die Rede und von einer Entwicklung in Richtung einer «illiberalen Demokratie». In Österreich hat zuletzt der Österreichische Rechtsanwaltskammertag konstatiert, dass die «Gefährdung der Grund- und Freiheitsrechte» in der Luft liegt. Sehen Sie Parallelen zwischen der heutigen Situation und der vor rund 90 Jahren?

Ja und nein. Unlängst konnte ich im Rahmen der Wiener Vorlesungen ein hervorragendes Referat von Sonja Puntscher-Riekmann hören, die genau das herausgearbeitet hat. Ich war zuletzt aber auch selbst beim Rechtsanwaltskammertag als Referent. Dort saßen Vizekanzler Strache und Justizminister Moser in der ersten Reihe, und beide Spitzenfunktionäre der Kammern, nebenbei beileibe keine Oppositionspolitiker, haben auch die BVT-Affäre sowie die Beschlagnahme von vertraulichen Anwaltsdaten ganz klar und in aller Deutlichkeit angesprochen. Warum erzähle ich das? Weil sich darin ein zentraler Unterschied zur Zwischenkriegszeit darstellen lässt. Damals war die absolute Mehrheit der Anwälte, der Richter, der Universitäten antidemokratisch. Heute ist das anders.

Worüber ich mir Sorgen mache, das ist der Umgang mit den Medien und insbesondere mit dem ORF, der 2019 ein neues Gesetz bekommen soll. Wenn im Bereich der Vierten Gewalt, also bei der Presse, nach dem ungarischen Modell an den Schrauben gedreht werden sollte, dann wird es haarig.

Ein Aspekt, den ich beispielsweise frappierend finde, ist der, dass und wie rasant Teile des Bürgertums in den letzten Jahren nach rechts gekippt sind.

Das stimmt, aber ich würde es nicht auf die bürgerlichen Parteien reduzieren. Auch bei uns geht die soziale Schere – wenn auch auf hohem Niveau – auseinander. Die Lohnzuwächse in den letzten zehn Jahren sind hier wesentlich niedriger ausgefallen als in vergleichbaren Ländern. Wir stehen auf einer Stufe mit Portugal und Spanien, und darunter gibt es fast nichts mehr. Die Menschen merken das. Und da gibt es dann eine starke Tendenz, demjenigen zu folgen, der eine starke Botschaft vertritt. In Österreich vertritt diese Position die FPÖ, die damit überwiegend Menschen am unteren Ende der sozialen Hierarchie anspricht, während die ÖVP so die bürgerliche Mitte adressiert. Insofern halte ich das Problem für noch größer, als man gemeinhin annimmt. Es beschränkt sich nicht auf bürgerliche Wählerinnen und Wähler, sondern hat die Form einer ganz breiten gesellschaftlichen Gegenreaktion angenommen. Ralf Dahrendorf hat schon Ende der 1990er-Jahre davor gewarnt, dass die Aufkündigung des sozialen Nachkriegspakts in ein autoritäres Zeitalter führen wird. Momentan spricht vieles dafür, dass diese Prophezeiung richtig ist.

Oliver Rathkolb (63) ist Vorstand des Instituts für Zeitgeschichte an der Universität Wien. Seit 2015 steht der zeitweilige wissenschaftliche Konsulent von Bruno Kreisky (1985–1990) dem internationalen wissenschaftlichen Beirat für das Haus der Geschichte Österreichs vor.