Pilz und Mensch im Kapitalismustun & lassen

Sachbuch: Ökologie und Kapitalismuskritik

Will man über etwas so Riesiges nachdenken wie globale Zusammenhänge des Kapitalismus und der Ökologie, ist es hilfreich, bei etwas ganz Kleinem zu beginnen. Die Anthropologin Anna Lowenhaupt Tsing widmet sich mit Der Pilz am Ende der Welt dem Matsutake.

Er ist wertvoller Speisepilz sowie Marker für Zerstörung. Er wächst nur in Wäldern, in die der Mensch massiv eingegriffen und karge Böden zurückgelassen hat. Dort siedeln sich Bäume an, mit denen der Matsutake in Symbiose lebt – er erlaubt es ihnen, auch aus diesen Böden Nährstoffe zu gewinnen.

Von dieser Beobachtung und den Wäldern von Oregon ausgehend, erzählt die Autorin entlang des Pilzes über das Leben in den Ruinen des Kapitalismus – so der Untertitel des Buches, dessen kurze Kapitel selbst wie Schwammerl funktionieren sollen: Schnell sprießend, einzelne, aber grundlegend verbundene Geschichten erzählend. Sie erklärt, wie der Pilz mit seiner queeren Fortpflanzung biologische Ordnungssysteme durcheinanderbringt. Und wie er, genauso wie in sein unterirdisches Rhizom, in Beziehungsgeflechte eingebettet ist, die den Menschen umfassen. Er steht, als begehrte Delikatesse, in der kapitalistischen Verwertungslogik, die er gleichzeitig zu unterlaufen scheint. Die Pilze, die unter prekären Bedingungen gesammelt werden, werden zur Ware. Viele der Sammler_innen, die die Autorin trifft, berufen sich aber auf die Freiheit dieser Arbeit; Freiheit von klassischer Lohnarbeit, von kriegsgeschüttelten Heimatländern und von urbanen Lebensweisen.

Lowenhaupt Tsing lässt sich vom «Pilz-Fieber» anstecken, ohne diese Bedingungen von Natur und Menschen zu beschönigen. Sie fragt nach den persönlichen Geschichten der Pilz-Sammler_innen – sehr oft Bergbewohner_innen aus Südostasien – und nach der Geschichte der Wälder, die sie durchforsten. Der Pilz zeigt, dass lebende, nicht-lebende, menschliche und nicht-menschliche Weltbewohner_innen in oft unerwarteten Weisen zusammenhängen und dass die Wissenschaft diese Verbindungen noch viel mehr beachten sollte.

Anna Lowenhaupt Tsing:

Der Pilz am Ende der Welt – Über das Leben in den Ruinen des Kapitalismus

Matthes & Seitz Berlin, 2018

448 Seiten, 23,99 Euro