Unfallfolgentun & lassen

Die AUVA braucht keine Zerschlagung, sie braucht eine Reform im Sinne der Versicherten

In der Debatte um die Allgemeine Unfallversicherungsanstalt (AUVA) wird ein wesentlicher Punkt völlig außer Acht gelassen – ihr gesetzlicher Auftrag und eigentliches Kerngeschäft: die Entschädigung bei Arbeitsunfällen durch eine Versehrten-

rente, meint Franz Fluch.

Illustration: Karl Berger

«Die in der Praxis bedeutsamste Geldleistung in der Unfallversicherung ist die Versehrtenrente.» Dieser Einleitungssatz zum Vorwort des Buches Das Gutachten in der gesetzlichen Unfallversicherung, herausgegeben von Ärzten der AUVA, stammt von Hofrat Matthias Neumayr, seines Zeichens Präsident des 10. Senats am Obersten Gerichtshof und dort zuständig für Versehrtenrenten. Und abschließend heißt es: «Die Bearbeiter weisen langjährige Erfahrung in der medizinischen Begutachtung auf und sind daher in besonderem Maße berufen, den aktuellen Gegebenheiten Rechnung zu tragen.» Hier maßt sich ein medizinischer Laie an, Fachliteratur zu beurteilen, einmal abgesehen davon, dass in der Medizin «langjährige Erfahrung» oft im Widerspruch zu «den aktuellen Gegebenheiten» steht. Mit anderen Worten: Hier legitimiert ein Höchstrichter, der zudem regelmäßig Vorträge auf AUVA-Fachsymposien hält, Gutachterstandards von AUVA-Ärzten, indem er »dem Werk eine wohlwollende Aufnahme und breite Akzeptanz wünscht« – ein Werk, das teilweise auf medizinischen Standards aus den 1960er- und 1970er-Jahren basiert und somit nicht dem aktuellen Stand der Wissenschaft entspricht.

Wie konnte es überhaupt dazu kommen, dass die AUVA, die über keinerlei wissenschaftliche Legitimation verfügt, hauseigene Standardwerke herausgibt und sich nicht an aktuelle wissenschaftliche Standards halten muss? Eine staatliche Unfallversicherungsanstalt, die in einer unvereinbaren dreifachen Zuständigkeit sowohl als Betreiber von Unfallspitälern den Rentenanspruch aus medizinischer Sicht überprüft, Leistungsträger für Versehrtenrenten ist, und drittens als Prozesspartei gegen Unfallopfer fungiert. Man kann diese durch kein Gesetz legitimierte Vorrangstellung der AUVA im österreichischen Gutachterwesen und ihren Einfluss bei Gerichten nur als maßlose Kompetenzüberschreitung bezeichnen.

Im Schatten der Sozialpartnerschaft.

Gesetzliche Grundlage der selbstverwalteten AUVA ist das Unfallversicherungsgesetz vom 28. Dezember 1887. Im Gegensatz zu heute wählten damals noch die Mitglieder, also die Versicherten und Unternehmen, den Vorstand. Diese direkte Selbstverwaltung – im Austrofaschismus schon 1933 abgeschafft – wurde nach dem Zweiten Weltkrieg durch ein sogenanntes indirektes Selbstverwaltungssystem ersetzt. Seither wird die Leitung der AUVA nicht mehr gewählt, sondern – unter Ausschluss der Mitglieder – direkt von den Interessenverbänden der Arbeitnehmer_innen und Unternehmer_innen, den Sozialpartner_innen, bestellt. Diese besetzen aber nicht nur die Kontrollgremien und Aufsichtsratsposten der AUVA, sondern entscheiden auch über sogenannte Quersubventionen – im Klartext: über die Zweckentfremdung der für Versehrtenrenten vorgesehenen Unfallversicherungsbeiträge von Unfallopfern, die kein Mitspracherecht haben, weil sie in den Entscheidungsgremien der AUVA gar nicht erst vertreten sind. Wie der Beantwortung einer parlamentarischen Anfrage des Gesundheitsministeriums an die Grünen im August 2013 zu entnehmen ist, betrugen diese Quersubventionen 2012 geschätzte 140 Millionen Euro. Außerdem sitzen die Sozialpartner_innen als Laienrichter_innen im Senat der Arbeits- und Sozialgerichte, entscheiden also darüber, ob Anspruch auf Versehrtenrente besteht oder nicht. Die Arbeitnehmer_innenvertreter_innen sitzen aber nicht nur auf der Richterbank. Sie stellen in der Regel durch den kostenlosen Rechtsschutz der Arbeiterkammer auch noch die Anwält_innen der Unfallopfer. Vor diesem Hintergrund ist es auch nicht verwunderlich, mit welcher Vehemenz Arbeiterkammer, Wirtschaftskammer, Ärztekammer, ÖGB und Parteifunktionäre sich gegen jeden Reformierungsversuch der AUVA zur Wehr setzen und weshalb eine 2015 initiierte parlamentarische Bürger_inneninitiative zur Qualitätssicherung von Gerichtsgutachten von allen in den Regierungsparteien vertretenen Sozialpartnern und Parlamentarier_innen bereits im Petitionsausschuss entsorgt wurde.

80 Prozent der Gutachten sind gar keine Gutachten.

Wie schlecht es um das österreichische Gutachter_innenwesen tatsächlich bestellt ist, hat die international renommierte Psychiaterin Gabriele Wörgötter im Dezember 2012 anlässlich der Tagung «Das Sachverständigengutachten im sozialgerichtlichen Verfahren» für die Arbeiterkammer Wien erhoben. In ihrer Studie kam die Wiener Gerichtsgutachterin zu dem Ergebnis, dass 80 Prozent der sozialgerichtlichen Gutachten ihrer Kolleg_innenschaft nicht einmal die Mindestanforderungen erfüllten. Und bei einem Runden Tisch zum Thema Gerichtsgutachter_innen und Schadenersatz für Unfallopfer beklagte Wörgötter, «dass diejenigen, die sich bemühen, hier Verbesserungen anzubringen oder vielleicht auch Missstände aufzuzeigen, als Nestbeschmutzer bezeichnet werden und weder die Justiz noch unser Verband daran interessiert ist, die Kompetenz der Gutachter zu heben» – eine Erfahrung, die auch der Innsbrucker Gerichtsgutachter Dr. Klaus Burtscher bestätigen kann: «Ein wesentlicher Kritikpunkt meines Erachtens ist, dass die Richterschaft sich die Sachverständigen aussuchen kann, die ihnen am besten zu Gesicht stehen. Und die werden dann mit Aufträgen überhäuft. Inzwischen sind sie Hausgutachter bei bestimmten Richterinnen und Richtern. Es ist auch anzumerken, dass in Österreich die Sachverständigenliste nur ein Indiz darstellt, ob jemand als Gutachter befähigt sein könnte. Das heißt aber nicht, dass er überhaupt befugt ist, diese Tätigkeit auszuüben», so Burtscher bei dem erwähnten Runden Tisch. Mit schlimmen Folgen für Unfallgeschädigte, denn das Gerichtsgutachten ist in der Regel auch das Urteil.

Der Fall Rosina Toth.

Rosina Toth war in ihrem Pkw Anfang März 2009 von einem alkoholisierten Fahrzeuglenker, einem Krankenpfleger der AUVA-Rehaklinik Weißer Hof, gerammt worden. Beide waren auf dem Heimweg vom Dienst. Seither leidet die ehemalige Judo-Staatsmeisterin unter Gleichgewichts- und Sehstörungen, an epileptischen Anfällen und ist auf die Benützung eines Rollstuhls angewiesen. Deutsche Gutachter haben nach einer zweitägigen Untersuchung «den Beweis schwerster Schäden der Gleichgewichtsstruktur, insbesondere im Hirnstamm, erbracht, was auf das Unfallereignis zurückzuführen ist.» Den am Arbeits- und Sozialgericht Wien für die AUVA zuständigen Richter Gustav Schneider, der so wie OGH-Richter Neumayr regelmäßig Vorträge auf Fachsymposien der AUVA hält, beeindruckte die Expertise nicht. Dazu kommt, dass bei Rosina Toth ärztliche Befunde, Notarzt- und Flugrettungsprotokolle aus dem Krankenakt verschwanden und ein im Auftrag der AUVA erstelltes HNO-Gutachten vom Chefarzt der AUVA-Landesstelle Wien und wissenschaftlichen Leiter der AUVA-Fachsymposien nachträglich zugunsten der beklagten Partei korrigiert wurde. Richter Schneider unterließ es obendrein noch, ein verkehrstechnisches Gutachten einzuholen.

Eine Hand wäscht die andere.

Welche spezielle Rolle dem Richter oder der Richterin zukommt, beschreibt Schneider selbst ganz unverblümt unter dem Titel «An der unsichtbaren Kandare» im Standard: «Der einzelne Richter darf sich durchaus den Luxus einer unabhängigen Rechtsprechung leisten – dann hat er beste Chancen auf eine Karriere zur Aburteilung von Hühnerdieben. Schwebt ihm eine Laufbahn anderer Art vor, hat er unaufgefordert zu wissen, welche Art von Verhaltensweise von ihm erwartet wird.» Richter Schneider kommt in der Beweiswürdigung seines Urteils der Versehrtenrentenklage von Rosina Toth zu folgendem Ergebnis: «Es hatte sich daher um ein verhältnismäßig glimpfliches Unfallgeschehen gehandelt, welches sich in mehr oder weniger ähnlicher Form österreichweit wohl mehrfach ereignet. Schon nach der allgemeinen Lebenserfahrung hinterlassen Unfälle dieser Art bei den betroffenen Lenker/inne/n keine dauerhaften Folgen. Die von der Klägerin dargestellten Diagnosen und Verhaltensweisen lassen sich aber auch unter Zugrundelegung der spezifischen Erfahrung des in Unfallversicherungsangelegenheiten seit 25 Jahren judizierenden Senates als kausale Folgen eines solchen Unfalls nicht nachvollziehen. In diesem Zusammenhang ist auf die Aussage des neurologisch/psychiatrischen Sachverständigen zu verweisen, wonach die Benutzung eines Rollstuhls durch die Klägerin eine selbstschädigende Einengung darstellt, die als Ausdruck einer tiefgreifenden neurotischen Störung und nicht als Unfallfolge zu interpretieren ist.»

Toths Fall ist exemplarisch für das österreichische Justiz- und Gutachter_innenunwesen. Eine Konstellation, die einerseits auf die Zweckentfremdung von Versicherungsbeiträgen und andererseits auf das langjährige persönliche und wirtschaftliche Naheverhältnis von Gerichtsgutachter_innen und Richter_innen mit der AUVA zurückzuführen ist. Würden sich Fälle wie der von Rosina Toth durch weitere Einsparungen bei der AUVA oder ihre gänzliche Zerschlagung verhindern lassen? Mit Sicherheit nicht. Dazu bräuchte es schon eine tatsächliche Reform der AUVA durch und im Sinne der Versicherten.

 

Franz Fluch: Schwarzbuch Versicherungen

Wenn Unrecht zu Recht wird

Mandelbaum 2015, 262 Seiten, 19,90 Euro