Auf der Suchevorstadt

Günter Josef Lechner träumt von den eigenen vier Wänden

Viele Nächte hindurch begleitete Nina Strasser (Text und Fotos) einen obdachlosen Mann. Aus den gemeinsamen Streifzügen durch die Stadt entstand das Fotoprojekt Die Titanic geht nicht unter.Auf einer Bank am Wiener Donaukanal liegt ein Mensch. Die kalten Tage verbringt er mit Warten, erst wenn es Nacht wird, zieht er los. Er will nicht, dass jemand sieht, wie er im Müll nach Essen sucht. Vom Boden klaubt er Zigarettenstummel, den Tabak wickelt er zum Rauchen in Zeitungspapier ein. Die Kupfermünzen, die er findet, sind wenig wert, doch wiegen schwer im Hosensack. Anderen Menschen bleibt der Mann meist fern. Er geniert sich für sein Plastiksackerl, und er hasst es, wenn er stinkt. Die Tiere sind seine besten Freunde. Sie stellen keine Fragen und schauen ihn nicht komisch an. Der Fuchs begleitet ihn ein Stück des Weges und der Dachs ist bei der Essenssuche sein schärfster Konkurrent.

In der kalten Jahreszeit führt ihn die nächtliche Sammelrunde am Stephansdom vorbei. Vor den Discotheken verlieren die Betrunkenen ihr Geld, manch einer gibt es ihm gar ungefragt. Im Sommer ist der Prater sein Revier. Ein Würstelstandbesitzer wickelt nach Ladenschluss die warme Ware erst in Alufolie ein, bevor er sie im Müll versenkt. In der Tourist_innenhochsaison ist der Brunnen mit Fremdwährungen gefüllt und ein paar Cent.

Der Mann träumt von eigenen vier Wänden. Ein Nachtquartier von Hilfsorganisationen lehnt er bei jedem Wetter ab. Eine Lungenentzündung rafft ihn fast dahin. Der graue Star nimmt ihm die Sicht. Ihn plagen Krämpfe und starke Schmerzen. Die Bandscheiben sind hinüber, das Knie macht nicht mehr viel mit. Oftmals wird er geschlagen, die Ausweise wurden ihm längst gestohlen. Verloren hat er seine alten Freunde. Einen Zahn besitzt er noch. Sein Stolz aber ist geblieben. Um Hilfe bitten will er nicht, betteln würde er nie im Leben. Sterben ist sein letztes Ziel. Probleme, sagt er, habe er nicht. Er redet sich die Welt gern schön – notfalls hilft Alkohol. Er ist sich sicher, wenn er sagt: «Ich lebe gern in der Natur.»

Weitere Fotos unter: www.ninastreets.com/photostories/titanic