Aufklärung am Stephansdomvorstadt

Um Jahrzehnte verspätet:

Erst 1810 wurde am Stephansdom ein Blitzableiter montiert. Eine Turmgeschichte von Anton Tantner ­(Text und Foto).

Verdrängter Humanismus – verzögerte Aufklärung lautet der Titel eines Standardwerks zur Geschichte der österreichischen Philosophie, und was für die lichten Höhen philosophischer Geistesanstrengungen gilt, lässt sich auch ganz konkret anhand der Geschichte der mit Jahrzehnten Verspätung erfolgten Montage eines Blitzableiters am Wiener Stephansdom zeigen. Dabei hätte es auch hierzulande die Möglichkeit einer zeitgerechten, sogar recht frühen Anwendung dieser neuen Technik gegeben, denn nur wenige Jahre nach Benjamin Franklin war es der tschechische Prämonstratenserpriester Prokop Diviš, der 1755 vorschlug, öffentliche Gebäude wie die Hofburg oder auch Schiffe mittels einer «meteorologischen Maschine» vor Gewitter zu schützen; ein Nachbau dieses Blitzableiters kann heute noch an Diviš‘ Wirkungsstätte in Přímětice, einem Stadtteil von Znojmo, besichtigt werden.

Das Ansinnen von Diviš blieb unerhört, und Ähnliches war zwei Jahrzehnte später dem Vorschlag eines gewissen Jan Ingenhousz, seines Zeichens Leibarzt Maria Theresias, beschieden: Er hatte sich erbötig gemacht, am Stephansdom einen Blitzableiter zu installieren und einen Beitrag zur damals die Wissenschaftscommunity bewegenden Frage zu leisten, ob denn nun spitz oder rund geformte Metallstangen effizienter wären. Die ambitionierten Pläne des Leibarztes verliefen jedoch im Sand, es blieb bei ein paar am Turm angebrachten Stangen und Drähten, die aber nicht durchgängig miteinander verbunden waren und die Blitze nicht in den Boden, sondern in den Stein des Doms ableiteten: Bei jedem Einschlag – und der Turm wurde oft getroffen – bröselte somit das Gemäuer, dass es eine Freude war.

Katholische Rückständigkeit.

Kein Wunder also, dass aufklärerisch gesinnte Gelehrte und Literaten immer wieder das Fehlen eines adäquaten Schutzes des ehrwürdigen Doms monierten; zu ihnen zählte etwa der norddeutsche Schriftsteller Friedrich Nicolai, der 1781 die Residenzstadt bereiste und mit seinem strengen Urteil über deren katholische Rückständigkeit nicht hinterm Berg hielt. Zu dieser Zeit verbreiteten sich Blitzableiter im gesamten deutschen Sprachraum, nur die höchste Erhebung der Wiener Stadt blieb davon ausgenommen. Dies blieb auch einem späteren Direktor des Burgtheaters, nämlich Joseph Schreyvogel (1768–1832) nicht verborgen. Er zählte zu den heute weitgehend vergessenen Literaten der österreichischen Aufklärung, die zeitweise gezwungen waren, dem reaktionären habsburgischen Mief zu entfliehen. Der Beteiligung an der sogenannten Jakobinerverschwörung beschuldigt, hatte er 1794 Wien verlassen und hielt sich in Jena und Weimar auf, bevor er zwei Winter später wieder zurückkehrte. Kurz vor seiner Heimkehr sollte er noch im November 1796 einen denkwürdigen Brief verfassen, in dem er zu wissen begehrte, «ob man in Wien in der Aufklärung so weit ist, daß der St. Stephansthurm auch einen Gewitterableiter hat».

Die Antwort wäre immer noch negativ ausgefallen, auch nach Schreyvogels Rückkehr sollten etliche Gewitter die Donaumetropole heimsuchen, ohne dass sich die Aufklärung an der Spitze ihres Wahrzeichens manifestiert hätte. Unterdessen blieb der Literat seiner politischen Überzeugung treu und polemisierte in dem von ihm gegründeten, heute noch lesenswerten Sonntagsblatt gegen die deutschen Romantiker vom Schlag eines Friedrich Schlegel oder Adam Müller, die vom Katholizismus Wiens angezogen in die Kaiserstadt strömten, weil sie sich von dort Pfründe in ihrem Kampf gegen Napoleon und dessen das alte Europa mit Gewalt durcheinanderwirbelnde postrevolutionäre Politik erhofften. Naturwissenschaftliche Rationalität war deren Sache nicht, statt für Pockenimpfungen und Blitzableiter begeisterten sich diese Vorfahren der Globuligläubigen und Klimaskeptiker_innen für tierischen Magnetismus und die germanische Götterwelt.

Letztendlich war es indirekt der von diesen verblendeten Wirrköpfen bekämpften französischen Militärmacht zu verdanken, dass auch der Stephansdom zu seinem adäquaten Wetterschutz kam: In der Nacht vom 11. auf den 12. Mai 1809 war nämlich der Südturm beim französischen Bombardement in Mitleidenschaft gezogen worden, die Sprengung der Basteien während des Abzugs der Truppen im Oktober und November verstärkte den Schaden noch.

Teilweise blieben Hirschgeweihe.

Im folgenden Jahr begannen die Restaurationsarbeiten, bis September 1810 waren die schlimmsten Schäden beseitigt. Der Turm wurde im Zuge dieser Arbeiten trigonometrisch vermessen, und schließlich wurde unter technischer Aufsicht des aus Mailand stammender Physikers Marsilio Landriani «auf Allerhöchsten Befehl Sr. Majestät des Kaisers Franz des I.» ein Blitzableiter angebracht. Gänzlich auf Aberglauben wurde aber nicht verzichtet, denn die Hirschgeweihe, die aus magischen Gründen seit Mitte des 16. Jahrhunderts am Turm zur Blitzabwehr befestigt waren, verblieben zumindest teilweise an ihrer Stelle; sie verschwanden vermutlich erst im Jahr 1839 bei der gänzlichen Neugestaltung der Turmspitze.

Das Fazit aus diesen Begebenheiten kann gemäß Schreyvogels Formel folgendermaßen gezogen werden: Aufklärung im österreichischen Kaiserstaat wird erzwungen durch napoleonische Militärs und mit massiver Verspätung durchgeführt von Staats wegen. Die religiösen Implikationen dieser Tat sollte 99 Jahre nach der erfolgreichen Montage ein würdiger Nachfolger Schreyvogels, nämlich Karl Kraus, in seiner Fackel auf folgenden Aphorismus bringen: «Ein Blitzableiter auf einem Kirchturm ist das denkbar stärkste Mißtrauensvotum gegen den lieben Gott.»