Grazer Wurzelnvorstadt

Homeless World Cup: Veranstalterland Mexiko holte das Double

Eine kürzlich gefallene Entscheidung im Weltfußball wurde in Österreich medial ziemlich ignoriert: die Fußballweltmeisterschaft der Obdachlosen in Mexiko.

Von Hans Bogenreiter

Foto: Caritas

«Der Homeless World Cup ist ein großes Experiment des Lebens. Er schafft Freundschaften und setzt das richtige Zeichen für den Erfolg.» Diesen Eindruck gewann die brasilianische Spielerin Michelle da Silva, die in der durch den Film City of God porträtierten Favela in Rio de Janeiro geboren wurde. Michelle wurde beim Homeless World Cup 2007 in Kopenhagen als beste Spielerin ausgezeichnet.

Der Homeless World Cup (HWC) ist ein von der UNO und UEFA unterstütztes und vom International Network of Street Papers (INSP) ausgerichtetes Straßenfußball-Turnier, das Obdachlose aus ihrer misslichen Lage herausholen und bei der Reintegration in die Gesellschaft unterstützen soll. Die Wurzeln des international höchst erfolgreichen Projektes liegen auch in Österreich. Der Grazer Harald Schmied, der Mitte Oktober viel zu früh verstarb, und der Schotte Mel Young entwickelten die Idee im Jahr 2001 am Rande der internationalen Konferenz der Straßenzeitungen in Kapstadt. Umgesetzt wurde die erste WM 2003 in Österreich. 20.000 Menschen feierten Spieler und Spielerinnen aus 18 Nationen bei der ersten Weltmeisterschaft der Obdachlosen in Graz: Das österreichische Team holte sich damals den WM-Titel (und 2004 den 2. Platz), 28 Fernsehstationen berichteten in alle Welt.

Starke Auftritte gegen starke Teams. Österreich belegte beim 16. HWC unter 40 teilnehmenden Nationen den 16. Rang im Herrenbewerb. Dem Veranstalterland Mexiko, nach 2012 bereits zum zweiten Mal, gelang mit dem Sieg im Frauen- und im Herrenbewerb das Double. Der Teamchef und frühere Nationalspieler Gilbert Prilasnig zog dennoch zufrieden Bilanz: «Wir haben uns trotz allem im Lauf der Woche gut entwickelt. Vom ersten Match weg war eine klare Steigerung erkennbar.» Das Team sei technisch und taktisch ganz gut gewesen, aber es hätten sich Schwächen in der Fitness gezeigt, die in der Schlussphase des Turniers immer wichtiger werde. «Wir haben alles versucht und bis zum Ende gekämpft. Das habe ich sicher für mein Leben gelernt, dass man mit Niederlagen umgehen können muss. Einfach ein neues Ziel setzen und nach vorne schauen, weitermachen», so kommentierte der 17-jährige Spieler Niamat Mohammadi das Ergebnis. Ihm widmete Laura Schwärzler im ­Online-Standard eine ausführliche und nachlesenswerte Geschichte.

Die Spiele der Österreicher verliefen knapp und eng (Eine Partie dauert jeweils nur 2 mal 7 Minuten), gegen Teams, die schließlich (viel) bessere Platzierungen erreichen konnten: Russland, gegen das man in der Zwischenrunde nach einem 3:3-Unentschieden das Penaltyschießen verlor, hat dadurch Rang neun belegt. Gegen die viertplatzierten Portugiesen hatten die Österreicher erst in den Schlusssekunden durch eine strittige Schiedsrichterentscheidung knapp 3:4 verloren. Und gegen den Turniersieger Mexiko hätte man beim Stand von 1:2 beinahe ausgeglichen: Der stark spielende Ali Faizi traf nach einem Alleingang nur die Latte, der abprallende Ball kam direkt zu einem mexikanischen Spieler, der direkt aus der Drehung schoss und dem im Tor der Österreicher abermals stark aufspielenden Afshar Alizadeh keine Chance ließ.

Ein kleiner Österreichbezug zur mexikanischen Siegermannschaft ist auch eine kurze Erwähnung wert. Der mexikanische Tormann Cristofer Jovanni Hernandez Miranda lebte als Kind in Chimalhuacán (Zwei-Millionen-Vorstadt von Mexico-Ciudad) auf der Straße, ehe er in einem Sozialprojekt, das die AHS-Lehrerin Leopoldine Ganser mitinitiiert hat, Aufnahme fand. Dort wird den Straßenkindern nicht nur ein neues Zuhause geboten, sondern neben Sport, insbesondere Fußball, Musik etc., auch eine Schul- und Berufsausbildung.

Die soziale Idee.

Der HWC ist eine innovative Ergänzung zur wertvollen sozialen Arbeit, die Tag für Tag in Notschlafstellen, Tageszentren und ähnlichen Einrichtungen passiert – eine erfolgreiche Ergänzung mit starker Symbolkraft, wie die Erfahrung nach 15 Jahren zeigt. Denn dieses weltumspannende Projekt zeigt die Entwicklungschancen auf und ermöglicht Menschen am Rand unseres Sozialgefüges gesellschaftliche Teilhabe. Wer die Herausforderung in einem Team meistert, gewinnt in jedem Fall: Die Spieler_innen tanken Selbstvertrauen, Kraft und Mut für die Zeit danach und erobern ihren Stolz zurück. Nach dem Turnier geht es um die Verbesserung der persönlichen Lebenssituation, dabei können die Akteur_innen auf die Unterstützung der über 30 sozialen Einrichtungen zählen, die allein in Österreich hinter diesem Projekt stehen. Eine Teilnahme am HWC lässt sich ohne die Hilfe von Sponsoring und Fördergeber_innen nicht realisieren. Die Kosten für Sichtung, Vorbereitung, Teambuilding, WM-Teilnahme und Nachbetreuung liegen bei über 50.000 Euro pro Jahr – je nachdem, wo die Reise hingeht.

Für die große Mehrheit der Spieler und Spielerinnen bewirkt der HWC einen Wendepunkt in ihrem Leben. Über das einzigartige Ereignis hinaus erfahren sie Anstöße für langfristige positive Veränderungen. Sie stehen bei einem weltweiten Sportereignis im Blickfeld der Öffentlichkeit. Der 2012 von Mexiko aufgestellte Zuschauer_innenrekord von über 150.000 Fans wurde diesmal mit 100.000 zwar verfehlt, aber das Interesse ist nach wie vor groß.

Die Statistik zeigt, dass zwei Drittel der Spieler_innen beim HWC danach signifikante Schritte zur Verbesserung ihres Lebens in Angriff nehmen. Alles geht leichter, wenn es zuvor Klick im Herzen gemacht hat: «Ich bin für etwas gut. Ich kann etwas. Ich bin nicht mehr allein.» Am Spielfeld werden vereinsamte Menschen wieder zu Teamplayern, die gemeinsam gewinnen, aber auch verlieren können. Auch der frühere Caritas-Direktor Franz Küberl ist überzeugt: «Wir müssen die Menschen dort abholen, wo sie sind. Darum ist der Homeless World Cup so erfolgreich. Und wir sind stolz darauf, […] dass sich die Idee von Jahr zu Jahr immer wieder so erfolgreich von einem Land in das nächste weitertragen lässt.»

Die Verpflichtung zur Hilfe.

Schlussendlich muss aber die integrative Seite des Fußballs beziehungsweise des Sports realistisch eingeordnet werden und sollte nicht dazu führen, dass unter den an den Rand gedrängten Menschen nur die Fitgebliebenen oder die mit einem besonderen Talent Gesegneten eine Chance erhalten. Der evangelische Theologe und Philosoph Friedrich Schleiermacher (1768–1834) begründete dies so: Je mehr jemand begünstigt ist, umso größer die Verpflichtung zur Hilfe. Und umgekehrt: Je größer die Benachteiligung, umso größer der Anspruch auf Hilfe. Diese Regel des Ausgleichs begründete Schleiermacher nun nicht moralisch, sondern mit der praktischen Vernunft. Beide, Begünstigte und Benachteiligte, seien doch aufeinander angewiesen. Radikale Gedanken, vor über 200 Jahren ausgesprochen, aber vielleicht gerade jetzt viel mehr als eine Erinnerung wert.

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